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Der Freimaurerbund ist ein Produkt der Moderne. Er entstand – Entwicklungsanstöße und Strukturmaterial aus der älteren Geschichte aufnehmend – zu Beginn des 18. Jahrhunderts und blickt inzwischen auf eine Entwicklung von gut 300 Jahren zurück.
Von Hans-Hermann Höhmann
Historische Erinnerung und gesellschaftlicher Wandel waren die bestimmenden Faktoren für seine Entstehung. „Historische Erinnerung“ bedeutet Erinnerung an die europäischen Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts, die zu einem hohen Toleranzbedarf und zur Sehnsucht nach gesellschaftlichen Brückenschlägen geführt hatten. „Gesellschaftlicher Wandel“ meint vor allem den ebenso zerstörerischen wie schöpferischen, vieldimensionalen Prozess der Säkularisierung, Individualisierung und Autonomisierung, der im 18. Jahrhundert mit Macht einsetzte.
Ein tiefgehender Wandel von Sinnstrukturen und Weltdeutungen ging einher mit Veränderungen der sozialen und ökonomischen Verhältnisse. Die zunehmende standesmäßige und berufliche Differenzierung der Gesellschaft, die sozio-politischen Funktionsverlagerungen auch beim Adel, das allmähliche Entstehen von Bürgertum und modernen kapitalistischen Wirtschaftsformen, das erhöhte Bildungsangebot, die Urbanisierung und die – unter dem Vorzeichen des europäischen Kolonialismus – sich auch international, ja interkontinental verstärkende räumliche Mobilität, all das führte dazu, dass Menschen aus ihren traditionellen Bindungen und sozialen Verankerungen gelöst wurden und auch in der Wahrnehmung ihres eigenen Selbst über Generationen hinweg praktizierte Deutungsmuster ablegen mussten.
Diese Veränderungen führten nicht nur zu Verunsicherungen, ja Krisen, sie ließen auch eine ausgeprägte Neigung entstehen, neue Einstellungs-, Bindungs- und Verhaltensoptionen aufzuspüren und zu nutzen. Es entwickelte sich eine Nachfrage nach neuen Formen von gesellschaftlichen Vernetzungen – modern ausgedrückt nach neuen Formen von „sozialem Kapital“ – und so wurde das 18. Jahrhundert zur Epoche der Assoziationsbildung und Geselligkeit.
Die Freimaurerei erwies sich dabei offensichtlich als eine besonders attraktive Form neuer gesellschaftlicher Einbindung. Dies resultierte ebenso aus der breiten Nutzbarkeit des Bundes für die Befriedigung vieler sozialer, weltanschaulicher, religiöser und politischer Bedürfnisse wie aus der Möglichkeit, die Logen und Logensysteme durch Veränderungen weiterzuentwickeln und an konkrete Bedürfnisse anzupassen.
Die Brüche und oft gegenläufigen Tendenzen des 18. Jahrhunderts, in mancherlei Hinsicht den labilen Strukturen der gegenwärtigen Moderne vergleichbar, spiegelten sich in einem bunten Gemisch verschiedenartiger Freimaurereien. Eine Konsolidierung der Freimaurerei trat erst in der Periode der eigentlichen Bürgergesellschaft ein, als sich auf dem Markt sozialer Einbindung gleichermaßen Nachfrage und Angebot stabilisierten. Insbesondere zwischen der Mitte des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts fungierten die deutschen Logen – unabhängig davon, ob sie den altpreußischen oder den humanitären Großlogen angehörten – als stabile Assoziationsformen der bürgerlichen Mittel- und Oberschichten innerhalb eines in der Regel kulturprotestantischen Milieus. Sie verstanden sich als Übungsstätten von Bürgertugenden wie Anstand, Respekt, Hilfsbereitschaft und Vaterlandsliebe, spielten – nicht zuletzt aufgrund obrigkeitlicher Protektion – eine anerkannte Rolle in der deutschen Gesellschaft und ordneten sich ihrerseits loyal in die bestehende politische Ordnung ein. Thomas Manns Charakteristik einer „machtgeschützten Innerlichkeit“ deutscher Gesellschaft und Kultur im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert kennzeichnete weithin auch Selbstverständnis und logeninterne Praxis der freimaurerischen Vereinigungen.
Die Freimaurerei erwies sich dabei als eine besonders attraktive Form neuer gesellschaftlicher Einbindung.
In den gut dreihundert Jahren, die seit ihrer institutionellen Begründung vergangen sind, ist die Freimaurerei von unterschiedlicher kultureller, gesellschaftlicher und politischer Bedeutung gewesen. Sie konstituierte sich als verschwiegene, ja geheime Verbindung, denn die Absicht, in den bestehenden ständisch-absolutistischen Strukturen neue Formen sozialer Einbindung zu suchen, veränderte Zugänge zu religiösen Erfahrungen zu erproben und kritische philosophische Diskurse zu führen, bedurfte eines schützenden Mediums. Um eine Feststellung des Historikers Reinhart Kosellecks zu variieren: Das „Geheimnis der Freiheit“ war nur als „Freiheit im Geheimen“ zu antizipieren. Zugleich wies die Freimaurerei in diesen drei Jahrhunderten sehr unterschiedliche Strukturen auf: in Bezug auf ihre Rituale, Systeme und Grade, in Bezug auf die Organisation von Logen und Großlogen sowie in Bezug auf ihr Selbstverständnis und ihre Funktion innerhalb der sie umgebenden Gesellschaft. Die Entwicklung der Moderne fand ihren Ausdruck in der Entwicklung der Freimaurerei, deren „Modernisierung“ allerdings ebenfalls nicht gleichförmig verlief. Sie war vielmehr vielschichtig, wechselhaft und oft widersprüchlich. Phasen von Modernisierung und Gegenströmungen dazu lösten sich ab, ja zu regelrechten historisch-gesellschaftlichen „Lagerwechseln“ ist es gekommen.
So ist die Geschichte der Freimaurerei immer die Geschichte ihrer Veränderungen gewesen, die sich teilweise „von unten“, aus den Logen heraus, evolutionär und allmählich, nach Orten und Systemen differenziert vollzogen, teilweise aber auch historisch gebündelt, im Kontext gesellschaftlich-politischer Veränderungen, in Schüben größerer und kleinerer Reformen erfolgten. Doch mit dieser Flexibilität verbanden sich feste, unterscheidbare Merkmale, die den besonderen Charakter der Freimaurerei und ihrer Logen durch die Geschichte hindurch begründeten. Zwar blieb Freimaurerei immer ein „Raum, in dem Vieles möglich war“ (so die Historikerin Monika Neugebauer-Wölk), aber dieser Raum „war nicht undefiniert, er enthielt wiedererkennbare Strukturen und Regeln“.
Zu diesen Merkmalen der freimaurerischen Grundstruktur gehörten und gehören insbesondere die folgenden vier:
1.
die abgeschlossene, durch verschwiegene Rituale geschützte, in der Regel männerbündische Gruppe, kurz das „maurerische Geheimnis“, das die Grenzen der Logengruppe bestimmte, wobei die Ableistung eines Eides der Verschwiegenheit bzw. eines feierlichen Gelöbnisses als Abschluss eines verbindlichen und bei Verletzung durch Ausschluss aus dem Bund sanktionierten „Gruppenvertrages“ fungiert;
2.
der initiatische Charakter der Rituale: Die Einführung des neuen Mitglieds und seine Wanderung durch die verschiedenen Grade erfolgt in rituellen Formen, die seit Arnold van Gennep als „Übergangsriten“ (rites de passage) beschrieben werden und Ausdruck eines bestimmten, auf innere Weiterentwicklung des Menschen angelegten Menschenbildes der Freimaurerei sind;
3.
eine ins Hermetisch-Esoterische erweiterte und später mit der Schaffung von Hochgradsystemen durch Rittersymbolik überhöhte Bausymbolik, in deren Mittelpunkt die Idee von Sein und Zeit als sinnvoll zu gestaltenden Bauwerken steht, die von einer wertgebundenen Bauidee unter dem Symbol eines universellen „Großen Baumeisters“ geleitetet wird, sowie
4.
ein Kanon von Werten, der um unterschiedliche, meist aufklärerisch-humanitär geprägte Begrifflichkeiten wie Menschenliebe, Brüderlichkeit, Duldsamkeit (Toleranz) und Gottesfürchtigkeit kreist, auf „Einübung“ dieser Werte setzt („Einübungsethik“ im Sinne von Klaus Hammacher) und hierdurch inhaltlich die Logengruppe als positive innere Gegenwelt zu den verschiedenen „profanen“ äußeren Welten konstituiert.
Dieser freimaurerischer Wertekanon war inhaltlich von Anfang an breit interpretierbar, vor allem in seiner Bedeutung für politisch-gesellschaftliche und philosophisch-religiöse Kontexte, innerhalb deren sich Logen und Logensysteme definierten. Dies bedeutet, dass die Freimaurerei in ihrer historischen Entwicklung mit sehr verschiedenen politischen Strukturen vereinbar war, zunächst (und vor allem) mit den sich im 18. Jahrhundert etablierenden Strukturen der Bürgergesellschaft, als Freimaurerei phasenweise fortschrittsadäquat war und zum Katalysator zukünftiger politischer Reformen, ja tiefgreifender Veränderungen im Sinne von bürgerlicher Gleichheit, Demokratie und nationaler Unabhängigkeit wurde. Doch wegen der für die Freimaurerei konstitutiven Trennung von Innenraum und Außenraum, von inneren (privaten) Tugenden und äußeren (öffentlichen) Tugenden erwies sich der freimaurerische Wertekanon als auch mit vordemokratisch-absolutistischen und – dies zeigte sich insbesondere an der Wende zu den 1930er Jahren – mit nicht-demokratischen, politisch-autoritären, ja nationalsozialistischen Strukturen vereinbar.
Das große Gemeinsame der verschiedenen „Freimaurereien“ blieb durch die Zeiten hindurch die brüderliche Gemeinschaft, die geübte Verschwiegenheit, das Setzen von Gruppengrenzen, die Trennung von innen und außen – kurz das „maurerische Geheimnis“. Es hatte und hat verschiedene Funktionen für die freimaurerische Gruppenbildung und ist damit von großer Relevanz auch für die Frage nach Veränderungen und Reformen.
Unter diesen (auch heute noch) partiell bewusst gesetzten, partiell implizit praktizierten Funktionen können vor allem die folgenden unterschieden werden:
1.
die schützende Funktion: ursprünglich Bedingung für eine von staatlichen und kirchlichen Eingriffen freie Sphäre, später Voraussetzung zur Bewahrung der im Falle der Veröffentlichung störanfälligen Integrität des rituellen Geschehens;
2.
die soziale Funktion: Stiftung von Freundschaft unter Menschen, die sich sonst nicht als Freunde begegnet wären; soziale Einbindung; Raum für die Begegnung als „bloße“ Menschen;
3.
die integrative Funktion: Zusammenbinden der generell eher unbestimmten Zwecksetzungen der Freimaurerei durch Stiftung von emotional erlebter, wert- und symbolüberhöhter Gemeinsamkeit;
4.
die pädagogische Funktion: Einüben von Tugenden und Vertrauenswürdigkeit, Praktizieren von „Einübungsethik“;
Die Freimaurerei konstituierte sich als verschwiegene, ja geheime Verbindung, denn die Absicht, in den bestehenden ständisch-absolutistischen Strukturen neue Formen sozialer Einbindung zu suchen, veränderte Zugänge zu religiösen Erfahrungen zu erproben und kritische philosophische Diskurse zu führen, bedurfte eines schützenden Mediums.
Während den genannten vier Funktionen ein positiver Charakter zugeschrieben werden kann, sind die folgenden drei von problematischer Qualität.
1.
die illusionsstiftende Funktion: Schaffung und Sicherung eines Raums zum Ausleben mannigfaltiger (oft im Widerspruch zu erklärten freimaurerischen Prinzipien stehenden) „Selbstverwirklichungs- und Selbsterhöhungsambitionen“;
2.
die Lockfunktion: Erhöhen der Attraktivität der Freimaurerei durch Einhüllen in einen „Mantel des Geheimnisvollen“;
schließlich und sehr wesentlich für den Prozess von Kritik, Veränderung und Reform
3.
die Funktion „innerer Hierarchisierung“: Gradvermehrung im Sinne einer „Hierarchie von Einweihungen“ zwecks Schaffung erweiterter Erlebnis-, Geltungs- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten – eine Funktion, die sich nicht selten als Element der Generierung von Konflikten in und zwischen den Logen und Großlogen erwiesen hat und erweist.
Das freimaurerische „Geheimnis“ verhinderte jedoch weder die Kommunikation mit Öffentlichkeit und Gesellschaft noch den Aufbau regionaler und internationaler Netzwerke sowie – vor allem durch sich überschneidende Mitgliedschaften – ein Zusammenwirken mit anderen Assoziationen. Das für die Logen typische Verhältnis von Geschlossenheit und Öffnung machte die Freimaurerei – wie zuerst vom deutschen Soziologen Georg Simmel aufgezeigt wurde – zu einer „geheimen Gesellschaft“ spezifischen und von Anbeginn an stark eingeschränkten Typs. In seiner „Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“ von 1908 schreibt Simmel (Zitat): „Das Freimaurertum betont, dass es die allgemeinste Gesellschaft sein will, der ‚Bund der Bünde‘, der Einzige, der jeden Sonderzweck und mit ihm alles partikularistische Wesen ablehnt und ausschließlich das allen guten Menschen Gemeinsame zu seinem Material machen will. Und Hand in Hand mit dieser, immer entschiedener werdenden Tendenz wächst die Vergleichgültigung des Geheimnischarakters für die Logen, seine Zurückziehung auf die bloßen formalen Äußerlichkeiten…. Der Freimaurerbund konnte seine neuerdings stark betonte Behauptung, dass er kein eigentlicher ‚Geheimbund‘ wäre, nicht besser stützen, als durch sein gleichzeitig geäußertes Ideal, alle Menschen zu umfassen und die Menschheit als ganze darzustellen“. Freilich hat diese Ablehnung „jedes Sonderzwecks“ die Folge, dass die Freimaurerei auf konkrete politisch-gesellschaftliche Programme verzichten musste und bis heute auch bewusst verzichtet.
Wie steht es nun um das Verhältnis zwischen Geheimnis, Veränderung und Reform?
Die voneinander abweichenden Interessen der Mitglieder der Freimaurerlogen, der unterschiedliche Grad, in dem die Logenwirklichkeit den Wertvorstellungen und Ambitionen der einzelnen Freimaurer entsprachen und die unterschiedliche Intensität, mit der „deutungsmächtige“ Brüder Übereinstimmungen oder Abweichungen von der „eigentlichen, echten, ursprünglichen Freimaurerei“ postulierten, hatte Auswirkungen auf Mitgliedschaft und Entwicklung des Bundes. Einerseits veranlassten mannigfaltige Enttäuschungen immer wieder prominente Brüder, die Freimaurerei zu verlassen, in der sie oft sehr aktiv tätig gewesen waren. Andererseits entwickelten sich unterschiedlich intensive und verschieden ausgerichtete Reformen.
Auch die mannigfaltigen Umgestaltungen des Freimaurerbundes können im Hinblick auf das freimaurerische Geheimnis als Inbegriff der zuvor erörterten freimaurerischen Grundstruktur interpretiert werden. Dabei lassen sich vier typische Ansätze unterscheiden:
1.
Die „Relativierung des Geheimnisses“, die dem von Simmel beschriebenen und besonders in den Hamburger Reformen Friedrich Ludwig Schröders Ausdruck findenden Weg einer „Vergleichgültigung des Geheimnischarakters für die Logen“ folgte. Hier ging es nicht mehr um ein in den Ritualinhalten verborgenes „wahres“ Geheimnis, es ging um das „eigentliche Geheimnis“ der Freimaurerei, das menschliche Begegnung zwischen Freunden, das Erlebnis der Bruderliebe sowie die „freimaurerische Geisteshaltung“ in das Zentrum des Bundes rückte.
2.
Die schon genannte „Hierarchisierung des Geheimnisses“: Hier wurde und wird das freimaurerische „Geheimnis“ (oder zumindest ein wesentlicher Teil davon) in den Ritualen neuer Systeme, Grade und Erkenntnisstufen gesucht, die über die „klassischen“ Grade Lehrling, Geselle und Meister hinausgehen und ein zunehmendes Maß an „Binnendifferenzierung“ innerhalb der freimaurerischen Gruppe bewirken.
3.
Die Verstärkung des religiösen Charakters der Freimaurerei („Metaphysierung des Geheimnisses“). Hauptbeispiel hierfür ist die – hierzulande von der „Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland“ vertretene – „Schwedische Lehrart“, als deren Fundament die „reine Lehre Jesu“ gilt, die die Bibel nicht als bloßes religiöses Symbol, sondern als das „größte aller Lichter“ versteht, die sich als christlicher Ritterorden konstituiert hat und die ihre Ideenwelt in einem vielstufigen Ritualsystem von großer Geschlossenheit entfaltet.
4.
Schließlich die „Radikalisierung des Geheimnisses“ durch den Übergang zum politisch orientierten Geheimbund, wofür die Illuminaten mit ihrem Bestreben, „jene dynamische Elite (zu) gewinnen, die damals eine Zentralisierung und Intensivierung der staatlichen Herrschaftsordnung erstrebte und grundlegende Reformen in der Wirtschaft, im Bildungswesen und im religiöse-kirchenpolitischen Bereich in Gang bringen wollte“ (so der Historiker Ludwig Hammermeyer), das wichtigste historische Beispiel bieten.
Zweierlei ist allerdings hinzuzufügen: Einmal sind die einzelnen Reformansätze nicht klar voneinander zu trennen und können sich, wie etwa im Falle der „Verchristlichung“ und Hierarchisierung durchaus miteinander verbinden. Zum anderen verlaufen sie nicht gradlinig und können auf den jeweiligen „Reformachsen“ Gegenentwicklungen auslösen: gegen die Hierarchisierung etwa das Wirken des Hamburger Systems von Friedrich Ludwig Schröder und des „Eklektischen Bundes“ in Frankfurt; gegen die Metaphysierung z.B. die Positionen des „Grand Orient de France“ und des „Freimaurerbunds zur aufgehenden Sonne“ in Deutschland, dem so unabhängige Geister wie Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky angehörten; gegen die Relativierung schließlich die verstärkte Rückkehr zur Esoterik als Material und Perzeptionsweise freimaurerischer Rituale in vielen Hochgradsystemen.
Wie steht es nun um Selbstverständnis, Ritual und Geheimnis heute?
In der gesellschaftlichen Realität der Gegenwart sind sich die deutschen Logen und Großlogen bewusst, dass die Freimaurerei vor allem ein neues, „offenes“ Verhältnis zur Öffentlichkeit herzustellen hat. Die Bruderschaft versteht sich als Bestandteil der demokratisch-pluralistischen Gesellschaft. Dies bedeutet zugleich, sich ihres Platzes in eben dieser Gesellschaft zu versichern und sich ihrer sozialen Umwelt verständlich zu machen, denn je mehr sich die deutsche Freimaurerei zur Gesellschaft öffnete, desto häufiger wurde sie auf ihr Selbstverständnis und ihre Wirklichkeit hin befragt.
Legimitätsbegründungen durch Berufung auf die Geschichte der Freimaurerei reichten nicht mehr aus. Auch Hinweise auf „bedeutende Freimaurer“ konnten nicht genügen. Die Fragen, was Freimaurerei in der modernen Gesellschaft ist und sein will, und was das „freimaurerische Geheimnis“ heute bedeutet, mussten auf eine neue und klarere Weise beantwortet werden. Eine präzise Antwort auf diese Fragen ist allerdings schwierig. Gewiss herrscht Übereinstimmung unter den deutschen Freimaurern in Bezug auf historische Entwicklungslinien und strukturelle Grundelemente, doch die Formen und Farben dieses Freimaurerbildes variieren ebenso, wie seine Einordnung in gesellschaftlich-historische Bezüge und die Begrifflichkeit seiner Vermittlung. Dies ist einmal darauf zurückzuführen, dass Großgruppen wie die Freimaurerei generell nie nur ein Selbstverständnis aufweisen und griffig-eindeutige Formulierungen für Corporate Identities immer subjektive Konstruktionen sind, die nicht selten den Verdacht ertragen müssen, primär als Führungsinstrumente nach innen und reglementierte Kommunikationscodes nach außen zu fungieren. Dazu kommen der unterschiedliche historische Hintergrund der einzelnen deutschen Logen- und Großlogen, die hierdurch bedingten tendenziell voneinander abweichenden „Lehrartverständnisse“.
Dennoch gibt es Übereinstimmungen, die in Satzungen, Stellungnahmen der Großlogenleitungen, Positionspapieren, Logen- und Großlogendiskussionen und den freimaurerischen Internetseiten ihren Ausdruck finden. Diese Übereinstimmungen haben klärenden Funktionen nach innen, sollen jedoch auch einer Öffentlichkeitsarbeit dienen, die die freimaurerische Identität nach außen vermittelt. Weitgehender Konsens besteht innerhalb der deutschen Bruderschaft, zumindest in ihrem weitaus größten, in der Großloge der Alten, Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland“ zusammengeschlossenen Teil darüber, dass Freimaurerei ein Freundschaftsbund ist, der über weltanschauliche, politische, nationale und soziale Grenzen hinweg Menschen miteinander verbinden will, die sich nach Herkunft und Interessenlage sonst nicht begegnen würden.
Freimaurerei wird weiter übereinstimmend als ethisch orientierter Bund verstanden, der mit seinen alten Wertpositionen Humanität, Brüderlichkeit, Freiheit, Gerechtigkeit, Friedensliebe und Toleranz Orientierungen und Maßstäbe für das Denken und Handeln ihrer Mitglieder vorzugeben in der Lage ist.
Schließlich versteht sich Freimaurerei weitgehend ungeteilt als symbolisch-ritueller Werkbund, die sich zur Festigung zwischenmenschlicher Bindungen, zur gefühlsmäßigen Vertiefung ethischer Überzeugungen, zur Vergegenwärtigung transzendenter Bezüge und als Anleitung zur Selbsterkenntnis alter, auf die Tradition der europäischen Dombauhütten zurückzuführende und aus anderen Quellen angereicherter Symbole und Rituale bedient. Und in diesem Kontext ist auch die Frage nach dem „Geheimnis“ nach wie vor von Bedeutung.
Zunächst eine deutliche Abgrenzung:
Freimaurerei versteht sich in keiner Weise als Geheimbund oder gar Verschwörung (auch der Begriff „Verschwörung zum Guten“, den Freimaurer gelegentlich in ihren Selbstbeschreibungen verwenden, ist unglücklich gewählt). Der Freimaurerbund und seine Mitglieder bekennen sich zu Demokratie und offener Gesellschaft, zu deren Verwirklichung viele Freimaurer wesentlich beigetragen haben. Zweck, Organisation und Vorstände von Logen und Großlogen sind jedem Interessenten zugänglich. Viele Veranstaltungen der Freimaurer sind heute öffentlich, und viele der im Auftrag der Großlogen herausgegebenen Publikationen können auch von Nichtmitgliedern des Bundes bezogen werden.
Die von den Freimaurern geübte Verschwiegenheit bezieht sich nur auf einige Einzelheiten des freimaurerischen Brauchtums und ist Symbol für den in jeder Gemeinschaft notwendigen Schutz von Freundschaft und persönlichem Vertrauen. Das „freimaurerische Geheimnis“ kann heute nur noch im Sinne eines solchen Vertrauensschutzes verstanden und praktiziert werden. Es darf Freimaurerei und Gesellschaft nicht trennen. Es sollte vielmehr angesichts des weitverbreiteten, gleichermaßen von den Medien wie ihren Konsumenten zu verantwortenden, oft schon suchthaften Dranges zur Indiskretion als konstruktives und stabilisierendes Wirkungselement einer offenen und zugleich humanen Gesellschaft verstanden und vermittelt werden.
In einem stärkeren Maße deutlich zu machen, ist schließlich auch das Verhältnis der Freimaurerei zur Religion. Für die humanitäre Freimaurerei, die in Deutschland durch die „Großloge der Alten, Freien und Angenommenen Maurer“ vertreten wird, die unter den Freimaurereien der Welt eindeutig im Vordergrund steht, ist Freimaurerei keine Religion und auch kein Ersatz für eine Religion.
In der gesellschaftlichen Realität der Gegenwart sind sich die deutschen Logen und Großlogen bewusst, dass die Freimaurerei vor allem ein neues, „offenes“ Verhältnis zur Öffentlichkeit herzustellen hat. Die Bruderschaft versteht sich als Bestandteil der demokratisch-pluralistischen Gesellschaft.
Die Freimaurerei versteht sich als offen für Menschen aller Glaubensbekenntnisse und Weltanschauungen, wenn diese mit den ethischen Überzeugungen und moralischen Prinzipien der Freimaurerei übereinstimmen. Die Freimaurerei vermittelt kein Glaubenssystem. Sie kennt kein Dogma, keine Theologie und keine Sakramente. Die Freimaurer haben auch keinen gemeinsamen Gottesbegriff. Die symbolische Präsenz eines „Großen Baumeisters der Welt“ im Ritual der Freimaurer darf folglich nicht mit den verschiedenen Gottesverständnissen der Religionen verwechselt oder gar gleichgesetzt werden. Die freimaurerische Symbolik begründet – wie gelegentlich missverstanden wird – auch keine religiösen Minimalanforderungen an den Freimaurer. Das Symbol des „Großen Baumeisters“ stellt vielmehr das umfassenden Sinnsymbol des Bundes dar und ist als solches vom Freimaurer zu respektieren, setzt doch ethisch orientiertes Handeln in masonischer Sicht die Anerkennung eines übergeordneten sinngebenden Prinzips und einer Wertorientierung voraus, das Verantwortung begründet und auf das die Ethik des Freimaurers letztlich rückbezogen ist.
Auf dieser Grundlage hat sich der Freimaurer moralisch, nicht religiös zu verpflichten. Ein guter und redlicher Mann soll er sein, ein Mann von Ehre und Anstand, ohne Rücksicht auf Bekenntnis und Überzeugung: Diese Forderung der „Alten Pflichten“ von 1723 gilt nach wie vor. Die Rituale der Freimaurer dienen der Einübung in eine wertbezogene Lebenspraxis. Dabei symbolisieren die Wanderungen durch die drei freimaurerischen Grade Lehrling, Geselle und Meister mit den entsprechenden Initiationen die Veränderungen des Menschen, die erforderlich sind, um Fortschritte auf dem Weg zu mehr Selbsterkenntnis, Mitmenschlichkeit und ethischem Handeln zu erreichen.
Bedeutet dies nun, dass der Freimaurerei jeder religiöse Bezug abgesprochen werden muss?
In einer weiteren, funktionalistisch-religionssoziologischen Perspektive kann diese Frage verneint werden. Der Soziologe Thomas Luckmann hat im Rahmen seiner Religionssoziologie Aufgabe und Wirkungsweise der Religion als „Einübung … in ein das Einzeldasein transzendierendes Sinngefüge“ bezeichnet. In diesem Sinne haben die Rituale der Freimaurer als Bestandteil der Sozialisierung und „Personwerdung“ des Menschen durchaus einen religiösen Charakter, ohne dass deshalb die Freimaurerei insgesamt zu einer religiösen Vereinigung würde.
Noch einmal: Freimaurerei ist kein Heilsweg, sondern ein Weg zur Bewährung im hier und jetzt. Ein Weg – es gibt viele andere. Die Gleichzeitigkeit des Respekts vor Religion und des Verzichts auf Nachahmung von Religion und/oder Einmischung in Religion kann die Freimaurerloge zu einer Gemeinschaft machen, in der sich gläubige Menschen ganz verschiedener Religionen mit religiös skeptischen, ja atheistisch eingestellten Menschen auf der Grundlage verpflichtender Werte freundschaftlich miteinander verbinden. Hierin sehen Freimaurer eine integrierende Kraft, die – wenn auch gewiss nur in bescheidenem Maße – dazu beitragen kann, die moderne (oder postmoderne) Gesellschaft mit all ihren Auflösungs- und Spaltungstendenzen auf der Basis einer gemeinsamen Wertbasis zusammenzuhalten.