Illustration Erica Guilane-Nachez / stock.adobe.com
Von Bodo Dannhöfer
„Gibt es eine freimaurerische Prophezeiung?“, fragte mich einmal ein Lehrling. Die Frage verwunderte mich zunächst, denn Prophezeiungen gehören in die Religionsgeschichte. Dort gilt der Prophet als Autorität und ist ein Verkünder einer Offenbarung, die er durch Visionen und Auditionen des göttlichen Wesens erfahren hat.
Da die Freimaurerei weder eine Religion noch Ersatzreligion ist und keine Offenbarung und somit auch keine Prophezeiung kennt, vermutete ich, dass er eine Prognose meinte. Ich fragte den Bruder im Verlauf des Gesprächs, weshalb ihn diese Frage umtreibt. Er antwortete, dass er sich dadurch das Ziel der Freimaurerei besser vorstellen könne. Schließlich ging mir auf, dass ihm eine Utopie vorschwebte.
Utopien werden nicht verkündet, sondern entwickelt. Sie sind ein Gegenentwurf zum aktuell Seienden. Die Menschen sind ihre Urheber, Träger sowie Gestalter und zumeist auch ihr Ziel. Da Utopien nicht nur als bessere, sondern als nahezu vollkommene Gesellschaftsentwürfe betrachtet werden, haftet ihnen auch oft etwas Statisches an. Die Geschichte scheint dadurch aufgehoben und die Zukunft narkotisiert zu sein. Hierin liegt eine sublime Form von Humor, denn der Mensch und sein Wirken sind weder statisch noch vollkommen.
„Fortschritt sind verwirklichte Utopien“
Der Begriff Utopie geht auf die imaginäre Insel Utopia zurück, was im Altgriechischen so viel heißt wie „Nichtort“. Erfunden hat sie der englische Staatsmann und Renaissance-Humanist Thomas Morus. Angesiedelt hat er die Insel in seinem gleichnamigen Roman, der 1516 erschien. Dies war eine Zeit des Umbruchs. Der Kontinent Amerika war gerade 24 Jahre entdeckt und Martin Luthers Übersetzung des Neuen Testaments ins Deutsche sollte in sechs Jahren erfolgen. Das Mittelalter verblich und die Frühe Neuzeit zog herauf. Morus beschreibt in seinem Buch eine ideale Gesellschaft, die u.a. als eine demokratische Republik organisiert ist, in der allgemeine Gleichheitsgrundsätze aller Menschen gelten und es kein Privateigentum gibt. Das waren überaus progressive Gedanken für Menschen, die in einer Zeit lebten, deren Ordnung durch sehr starke und kaum bewegliche Standesunterschiede geprägt war. Durch dieses Buch legte der Autor zugleich den Grundstein für die literarische Gattung der Sozialutopie. Dabei ist Utopie mehr als Vorstellungskraft und Literatur. Sie ist ein interessanter und mutiger Konsens von unterschiedlichen Gedanken, die zunächst unrealisierbar, waghalsig oder sogar befremdlich erscheinen. Im profanen Leben ist in solchem Zusammenhang oft der Satz zu hören: „Das ist doch utopisch“, was meist nichts anderes ist als ein Ausdruck geistiger Verweigerung.
Utopie stellt in den Raum, was idealerweise sein könnte, wonach es lohnt zu streben. Damit impliziert sie auch, dass sich hierfür der meist an Trägheit orientierte Mensch aus seiner geistigen Komfortzone herausbemühen muss. Der Schriftsteller und Freimaurer Oscar Wilde schreibt: „Eine Landkarte, auf der Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keinen Blick, denn sie ist der Ort, an dem die Menschen immer anlanden.“ Und: „Fortschritt sind verwirklichte Utopien.“
Die Freimaurerei ist keine Utopie, denn sie zeichnet keinen statischen Idealzustand. Dafür existiert sie seit über 300 Jahren und ist in vielen Ländern der Welt anzutreffen. Dabei ist sie Idee wie Anspruch, ihre Verwirklichung vital. Freimaurer kennen keine Dogmen, sondern die Symbolik des Bauens. Deshalb ist Freimaurerei kein Zustand, sondern eine Tätigkeit, die ein Leben lang verlangt wird und nicht vollständig abgeschlossen werden kann. Somit wird der Weg zum Ziel. Während in einer Utopie die Menschen bereits an einem optimalen Punkt angekommen wären.
Der Salomonische Tempel als Symbol für eine Idealkonstruktion
Das strebende Bemühen der Freimaurer wird durch den Tempel der Humanität dargestellt. Dieser symbolische Monumentalbau geht zurück auf den Salomonischen Tempel. Das jüdische Volk hatte in der Zeit seines Umherwanderns einen mobilen Tempel in Form eines Zeltes. In Jerusalem angekommen errichtete König Salomo auf dem Berg Moria einen immobilen Tempel. Er wurde 957 v.Chr. in symbolischer siebenjähriger Bauzeit errichtet und 586 v.Chr. durch die Babylonier zerstört. Nach dem babylonischen Exil der Juden wurde er 517 v.Chr. erneut errichtet, ab 21 v.Chr. im hellenistischen Stil umgestaltet und 70 n.Chr. von den Römern geschleift. Kurz darauf errichteten die Römer in der Stadt einen repräsentativen Jupitertempel. Seit 691 stehen auf dem Tempelberg der islamische Felsendom und seit 705/715 die al-Aqsa-Moschee. Das Fundament der Westmauer des zweiten Tempels (517 v.Chr. — 70 n.Chr.) ist als Klagemauer bekannt und bis heute erhalten.
Die historischen, operativen Freimaurer des Mittelalters waren christliche Architekten und sie erkannten in diesem religiösen Bauwerk einen besonderen Orientierungspunkt. Denn der Tempel Salomons gilt als der erste Tempel, der dem einen Gott gewidmet war. Architekturgeschichtlich gesehen war dieser Tempel jedoch weniger bedeutend. Denn die Israeliten waren niemals eine dominierende Kultur, wie die Babylonier oder Ägypter, die über Jahrhunderte Reiche von gewaltigen Ausmaßen beherrschten und Architekturen wie die hängenden Gärten oder die Pyramiden bauten, die zu den Weltwundern der Antike zählen. Vielmehr waren die Israeliten ein kleines und mehrfach von anderen Mächten (Babylonier, Ägypter, Römer) unterworfenes und zeitweise versklavtes Volk. Die Beschreibung des Tempels findet sich in der hebräischen Bibel, dem Tanach, die mit leicht abweichendem Kanon in das Alte Testament der Christen übernommen wurde.
Moderne Freimaurer erkennen im Salomonischen Tempel ein Symbol für eine Idealkonstruktion. Zu finden ist er an zentraler Stelle der freimaurerischen Tempelarbeiten, dargestellt als Grundriss des Arbeitsteppichs. Der Salomonische Tempel transformierte sich von historischer Materie zum Symbol eines neuen Gedankens, des Tempels der Humanität. Dies geschah zu Anfang des 18. Jahrhunderts, als die moderne Freimaurerei als ein Kind der Aufklärung geboren wurde. Die lebendige Ausgestaltung dieses Tempels ist das Ziel der Freimaurer. Im gemeinsamen Schaffen daran sollen die Menschen in moralischer Gleichwertigkeit und ethischer Übereinstimmung vereinigt werden. Dazu dienen die zahlreichen symbolischen Werkzeuge, die ihrerseits schon einen Einzelzweck bedienen und aus dem Lehrbild des Salomonischen Tempels entwickelt werden. Der Errichtungsort befindet sich im eigenen Innern. Durch die Arbeit an sich selbst werden das Schaffen und Ausgestalten des Tempels geleistet. Dies soll allen Menschen dienlich sein und am Verhalten des Maurers erkannt werden. Humanität heißt Mitwirken am Frieden, an der Völkerverständigung, dem Weltbürgertum, der Erhaltung des Planeten, kurz: zu allen Menschen, auch den kommenden, menschlich zu sein. Freimaurer sind nicht bessere oder nahezu vollkommene Menschen, wie in einer Utopie. Aber sie bemühen sich, sich selbst zu entwickeln.
Von „dienstgewissenhaften Egoisten“ und Individualisten
In meiner Gesellenzeit sagte ein älterer Bruder einmal zu mir, dass Freimaurer dienstgewissenhafte Egoisten seien, weil sie nur an sich arbeiten. Das Zwinkern in seinem Auge war unübersehbar. Schließlich sieht der Egoist sich als Maß aller Dinge und stellt an andere Menschen Ansprüche. Gegenspieler des Egoisten ist der Individualist, der keine Ansprüche an Andere stellt. Jeder Mensch ist nach seiner Art gewachsen, hat seine besondere Beschaffenheit und kann nur individuell geformt, geglättet, geschliffen werden und seinen Platz in dem großen Bau finden. Marmor ist bekanntlich sehr fest und schön, doch wäre es sehr intolerant von ihm, wenn er verlangte, dass alle anderen Steine auch wie Marmor sein und ebenso behandelt werden sollten. Für die unterschiedlichen Beschaffenheiten der Steine ist genug Platz am Bau des Menschheitstempels, denn er ist groß und seine Mauern sind mächtig. Schon lange wird an ihm gearbeitet und es werden noch viele Steine und Hände benötigt.
Würde der eingangs erwähnte Lehrling die Frage heute noch einmal stellen, würde ich ihm antworten: „Die Freimaurerei kennt weder eine Prophezeiung noch ist sie Utopie. Sie kennt das Symbol des Tempels der Humanität. Dieses ist alt und immer jung. Es ist Anspruch und Wirklichkeit. Es ist ideal und muss gestaltet werden. Es braucht dich als Arbeitskraft und deinen Lohn findest du in deiner Vervollkommnung. Denn so, wie der große Bau wächst, wächst auch du.“
Dieser Beitrag stammt aus dem Heft 3-2022 der HUMANITÄT, dem deutschen Freimaurer-Magazin. Das Heft kann bei der Kanzlei abonniert werden.