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Die Wahrheit werden Sie nur in Ihrem Innersten finden

© Stillkost / stock.adobe.com

 

Von Matthias Hischer

Diese Geschichte beschreibt zwei gleichzeitige Wahrheiten und verleitet zu den Fragen: Was ist wahr? Gibt es Wahrheit? Was hat Wahrheit mit Erkenntnis zu tun?

„Einst ging ich durch einen idyllischen, blühenden Garten. Sein fünfeckiger Grundriss war durch eine hohe Mauer begrenzt. Vögel sangen wunderbare Melodien. Im schönen Gras tummelten sich vergnügte Tiere. Große und kleine zauberhaft bunte Schmetterlinge flatterten an mir vorbei. Die Luft war seidig, hin und wieder fielen einige warme Regentropfen. Eine plätschernde Quelle speiste einen kleinen, klaren See. Es duftete nach Blumen und frischen Kräutern. Leckere Früchte in den Sträuchern sättigten mich, wenn ich Hunger hatte. Genau in der Mitte des Gartens aber stand ein besonderer, einzigartig schöner Baum, in dessen Krone noch herrlichere Früchte leuchteten. In mir und rings um mich her konnte ich nur Ruhe und Frieden wahrnehmen. Eines Tages erstieg ich den besonderen Baum, um auch dessen herrliche Früchte zu probieren. Ich kostete davon und mir wurde eigenartig zumute, und als ich meinen Kopf wendete, konnte ich von dort oben über die Mauer blicken. Erschrocken sah ich, dass die ganze äußere Welt in Flammen stand. Alles war rot und die Hitze schlug mir ins Gesicht. Dort draußen tobte ein unbeschreiblicher Feuersturm und ich hatte es nicht gewusst.“

Generationen vor mir haben sich diese Fragen gestellt – und ihre Antworten darauf gefunden. Die menschliche Geschichte ist von der Suche nach Wahrheit durchsetzt. John Locke hat im 18. Jahrhundert gesagt: „Der beste Weg zur Wahrheit zu gelangen, ist dieser, dass man die Dinge untersucht, wie sie wirklich sind und nicht schließt, sie wären so, wie es uns andere zu glauben gelehrt haben.“

Kann etwas wahrer sein als wahr?

Wenn wir also den Dingen auf den Grund gehen wollen, müssen wir uns zuerst mit der Wortbedeutung befassen: „Wahrheit“ ist ein Wort der deutschen Sprache, ein sogenanntes Abstraktum, das aus dem Adjektiv „wahr“ gebildet wird. Das zugehörige Adverb lautet „wahrlich“. Wie das „Etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache“ von Kluge (Berlin/New York, 2002) verrät, hat sich das deutsche Wort „wahr“ gebildet aus dem indogermanischen Wurzelnomen „*wēr-“ („Vertrauen, Treue, Zustimmung“) – griechisch „ēra“ („Gefallen, Gunst“) –, das zum germanischen „wærō“ wurde, was „Versprechen, Verpflichtung, Vertrag“ bedeutet. Altkirchenslawisch bedeutet das Wort „věra“ „Glaube, Vertrauen, Treue“. Als Substantiv ist „Wahr“ ein Verbalnomen zu dem indogermanischen „*werə-“ („achten“).

Das ist nun freilich erst einmal eine ganz andere Herkunft, als unser heutiges Verständnis dieses Wortes. Denn heute wird diejenige Aussage als „wahr“ bezeichnet, die mit der Realität übereinstimmt. Es besteht gewissermaßen ein Absolutheitsanspruch, wenn ich das Wort „wahr“ oder „Wahrheit“ benutze. Nur die eben zitierte sprachliche Herkunft über Vertrauen, Verpflichtung und Achtung offenbart, warum sich unser Adjektiv „wahr“ überhaupt steigern lässt. Der Komparativ von „wahr“ lautet nämlich „wahrer“, der Superlativ lautet „am wahrsten“. Könnt Ihr Euch ganz praktisch etwas vorstellen, das „wahrer“ ist als „wahr“?

Die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit

Interessanterweise hat „wahr“ in seiner Wortherkunft auch Verwandtschaftsbezüge zu: albern (von „alwære“ – „freundlich, gütig“), gewähren, bewähren, veritabel, wahren, zwar (von „ze ware“ – „in Wahrheit“). „Wahr“ ist darüber hinaus sprachverwandt mit vielen anderen Worten, so z. B. während, wahrnehmen, wahrscheinlich, Währung, Wahrzeichen usw.

Folgende Aussagen haben wir alle entweder schon selbst getätigt oder von anderen gehört: Das ist nicht wahr! – In Wahrheit ist es doch so: … – Bleibe einfach bei der Wahrheit, dann kann dir nichts passieren. – Ich schwöre, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit! (Oft gefolgt von einem: So wahr mir Gott helfe!)

Wir Menschen nehmen im heutigen täglichen Leben für gewöhnlich an, dass wir die Wahrheit, die Realität erkennen. Wir haben sie doch um uns! Ich nehme die Wahrheit wahr. Zum Beispiel hebe ich meine Hand und bekomme eine entsprechende Rückmeldung der Nervenzellen, optisch und sensorisch. Dieses alltägliche Vertrauen kann jedoch mit psychologischen Methoden sehr schnell erschüttert werden. Ich möchte sie hier nicht aufführen, aber schon in einem Spiegelkabinett auf dem Jahrmarkt gerät ein normalsichtiger Besucher an die Grenzen dessen, was für ihn Wahrheit ausmacht. Von hunderten Spiegeln umgeben findet man kaum noch den Weg, obwohl alles hell erleuchtet ist. Und wie wahr ist eine virtuelle Welt im Computer? Der Begriff Wahrheit, so wird deutlich, ist im Alltag sehr dicht mit der menschlichen Wahrnehmung, mit unserer Vorstellung von Realität verknüpft. Unser Hirn und unsere Sinneszellen helfen uns, in der Welt zurechtzukommen.

Das Rauschen der Wahrheit wird weggefiltert

Das Spektrum unserer Wahrnehmung ist aber begrenzt. Radioaktivität können wir ebensowenig unmittelbar wahrnehmen wie im allgemeinen Magnetfelder (wobei es Ausnahmen gibt). Doch auch die grundsätzlich wahrnehmbaren Eindrücke unserer umgebenden Umwelt ließen sich in ihrer Fülle unmöglich weder wahrnehmen noch speichern. Jede Sekunde prasseln Milliarden verschiedener Reize auf uns ein: visuelle Reize, auditive Reize, sensitive Reize, chemische Stoffe. Z. B. hat jedes unserer Augen über 130 Millionen Sehzellen. Unser Hirn vollbringt die unglaubliche Meisterleistung, aus all den Reizen die für den Augenblick als wichtig eingestuften Informationen zu entnehmen. Wie machen wir das? Die Reize einer vorselektierten Zone werden augenblicklich mit Bekanntem verglichen und somit zugeordnet. Wir treten beispielweise in unseren Klubraum und unterhalten uns mit einem Bruder. Das Füßetrappeln und -scharren ist uninteressant und wird ausgeblendet, ebenso die aktuelle Weißtönung der Decke oder die Kraft, die wir aufwenden müssen, um zu stehen, das Glas zu heben oder den Kopf zu drehen. Eine bestimmte Höhe und Modulation akustischer Frequenzen nehmen wir als „Sprache von Bruder XY“ wahr. Unsere Aufmerksamkeit filtert diese unbewusst aus dem Frequenzstrom heraus und schickt sie zur Weiterverarbeitung. Ein anderes Geräusch ähnelt dem Zischen beim Öffnen einer Bierflasche und könnte ebenfalls interessant sein. In einem gefüllten Raum voller sprechender Menschen können sich zwei Brüder miteinander unterhalten. Die anderen Stimmen mit ähnlicher Stimmlage werden einfach weggefiltert, aber trotzdem fortwährend gescannt, denn je nach Grad der Vertiefung kann sich beim Ruf des eigenen Namens der Kopf drehen. Was für eine Meisterleistung unserer Sinnesorgane und unseres Hirns ist das! Diese unglaubliche Leistung wird uns erst bewusst, wenn wir in dieser Fähigkeit plötzlich eingeschränkt sind, wenn wir beispielsweise einen Hörsturz oder andere gesundheitliche Beeinträchtigungen erleiden. Ich finde übrigens immer wieder beeindruckend, wie behinderte Menschen in ihrer Umwelt zurechtkommen.

Nur die Reize werden also überhaupt verarbeitet, die
a) innerhalb meines Wahrnehmungs-Spektrums liegen
b) mit bereits Bekanntem verbunden werden können.

Betrügen uns unsere Sinne?

Dieser kleine Ausschnitt ist meine Wirklichkeit, meine Wahrheit, meine Realität! Alle anderen Teile der Wahrheit existieren für mich nicht. Von den verarbeiteten Reizen werden wiederum nur die Dinge behalten, denen Relevanz beigemessen wird. Alles andere fließt ebenfalls unbeachtet davon. Unsere sogenannte Wahrheit ist zudem nicht nur ein Konstrukt des Geistes, sie ist auch bereits in dem Moment nur noch eine Erinnerung, da der Moment vorbei ist. Die menschliche Erinnerung funktioniert aber nicht wie ein Videofilm, den man beliebig vor- und zurückspulen kann. Oder wisst Ihr spontan, in welcher Reihenfolge und Ordnung die Jacken am Garderobenständer hingen? Ihr habt sie doch gerade gesehen! Auch wenn ihr vielleicht meint, euch an eure heutige, persönliche Begrüßung der Brüder detailliert erinnern zu können, seid gewiss, dass dieser Glaube zumindest dann eine Illusion ist, wenn dabei nichts Außergewöhnliches vorfiel. Das Hirn generiert aus mehrmals zuvor erlebten Geschehnissen ähnlichen Charakters eine Erinnerung. Es baut aus Bekanntem für die gewünschte Erinnerung etwas scheinbar Sinnvolles zusammen. Ich soll mich auf Knopfdruck an eine bestimmte Begebenheit erinnern, die ich so aber vorher schon öfter erlebt habe? Kein Problem, die Erinnerung wird sofort … „hergestellt“. Bei all der Leistung ist es auch ein wenig bequem, unser Hirn. Oder sollte ich sagen: effizient?

Sicher werden manche von Euch im Stillen einwenden, dass einige Menschen besondere Fähigkeiten in Wahrnehmung oder Erinnerung haben. Einige sogenannte Savants können z. B. sehr detailliert wiedergeben, was sich wo befand, wenn sie einmal eine Szene gesehen haben. Andere können sich an jede einzelne Zahl erinnern, die sie jemals gehört haben. Dies sind Inselbegabungen, aber auch diese Menschen erfassen nicht das, was wir heute unter dem Begriff Wahrheit verstehen: die objektive Realität. Die volkstümliche Forderung, man solle immer die Wahrheit sagen, aber man solle die Wahrheit nicht immer sagen, erweist sich damit genauso als ein Ding der Unmöglichkeit wie der alberne Schwur: „Ich schwöre, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit!“

Diamanten und Wahrheiten

Wir können die uns umgebende Wahrheit weder richtig erkennen, noch uns richtig an sie erinnern. Wir leben in einer virtuellen Blase, die uns vorgaukelt, sie sei die Realität. Dieser Gedanke ist schwierig zu verarbeiten, führt aber zu Demut.

Doch wie ist es mit der Erkenntnis von Wahrheit?

Victor Hugo prägte im 19. Jahrhundert den Ausspruch: „Man findet Diamanten nur im Dunkel der Erde und Wahrheiten nur in den Tiefen des Denkens.“ Kann das ein Weg sein? Lässt sich Wahrheit mit dem Verstand erfassen?

Physiker oder Chemiker wollen sich mit Versuchen, Messergebnissen und Berechnungen der Wahrheit gedanklich annähern. Sie wollen die Wahrheit also zumindest „denken“. Diese Denkvorgänge werden sich aber immer innerhalb der Grenzen bewegen müssen, die das menschliche Gehirn setzt. Von bedeutenden Wissenschaftlern hören wir, dass sie mit wachsender Erkenntnissuche immer mehr von Ehrfurcht geprägt wurden, Ehrfurcht gegenüber dem ganzen unendlich ausgefeilten System, in das wir eingebettet sind. Es gibt z. B. nicht nur die sehr schwer vorstellbare Raum-Zeit-Krümmung, sondern auch: Materie, Dunkle Materie und Antimaterie, Photonen, Quarks, Bosonen, Energie und Dunkle Energie, Schwarze Löcher – und unendlich viele Galaxien in unserem Universum, ja, nach der Theorie einiger Wissenschaftler sogar unendlich viele Universen!

Die erst im Zeitalter der Aufklärung entstandene Wissenschaftsgläubigkeit, die optimistisch davon ausging, man könne alles erkennen, wenn man nur eifrig und lange genug forschen würde, ist bei vielen längst einer Ehrfurcht gewichen. Und oft klingt in Interviews das philosophisch anmutende Postulat an, dass wir wohl niemals alles werden erkennen können. „Es irrt der Mensch, solang er strebt!“, heißt es in Goethes „Faust“. Die absolute Wahrheit ist für uns also letztlich ein erkenntnistheoretischer Problemfall. „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, erklärte schon Sokrates, und Br. Goethe lässt seinen Dr. Faust sagen: „Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor.“

Verstand und Mystik

Das ist die passende Stelle, um die Freimaurerei ins Spiel zu bringen – oder besser gesagt, einen wichtigen Teil der Freimaurerei. Die Freimaurerei verdankt ihre stürmische Entwicklung im 18. Jahrhundert der Verbindung von rationaler Aufklärung auf der einen und mystifizierender Romantik auf der anderen Seite, die sie zu leisten imstande war. Sie sprach und spricht beide Seiten an. Sie bedient konsequent den Verstand, aber lässt Raum für die mystische Sicht auf die Welt. Von der Seite des Verstandes habe ich einige gute Gründe für den Schluss genannt, dass Wahrheit entweder nicht existiert oder zumindest für Menschen nicht erkennbar ist. Daher wende ich mich nun der alten, mystischen Sichtweise zu. Doch wie funktioniert diese heute noch? Können wir sie inmitten einer vollkommen anders geprägten Welt überhaupt noch nachvollziehen? Sind wir noch in der Lage, die Welt gewissermaßen „kindlich“ zu betrachten, voll von Wundern?

Allegorien und Symbole als Erzählweise

Fast die gesamte Zeit ihres Bestehens ging die Menschheit davon aus, dass es Dinge gibt, die sich der menschlichen Kenntnis und unseren Wahrnehmungsmöglichkeit entziehen. Dies änderte sich erst vor relativ kurzer Zeit, mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Die vorher bestehenden Kulturen und Gesellschaften setzten Götter, Wesen und Phänomene für unerklärbare, unerkennbare Dinge und Vorgänge ein. Freilich sind einige früher unerklärbare Phänomene in ihrer Wirkweise heute bekannt. Wir haben etwa eine Vorstellung davon, wie Blitz und Donner entstehen. Doch unsere Vorfahren waren nicht so dumm, wie wir das heute gern herablassend annehmen. Es ging nicht nur um Blitz und Donner, denen man göttliches Wirken zuordnete. Das symbolisch-allegorische Weltbild bezog die ganze menschliche Welt, also auch Gefühl, Moral und Ethik mit ein. In der ägyptischen Tradition etwa symbolisiert die Göttin Maat das Prinzip von Wahrheit, Gerechtigkeit und göttlicher Ordnung. Die alte Denkweise reichte damit viel weiter, als ihr heute unterstellt wird. Die Geschichten von Göttern und Wundern sind nur die Oberfläche. Auch die klassische Antike erzählt ihre mystischen Geschichten nicht real, sondern allegorisch-hinweisend. Der echte Gehalt liegt sozusagen zwischen den Zeilen. Dies ist der „realistischen“ Sicht, die heute unsere Gesellschaft bestimmt, weit voraus, weil es den Geist öffnet für die mehrdimensionale Wahrheit, für das Werden und Vergehen. In den alten Texten geht es nicht um die Feststellung von dem, was ist, sondern um Verwandlungen hin zu etwas. Der jüdische Historiker Michael Wolffsohn sagte dazu in einem Interview am 14. August 2017 im Deutschlandfunk: „Wenn Sie die Metamorphosen von Ovid nehmen, haben Sie auch da die Erzählung zu dem, was geworden ist. Also, das Ergebnis ist bekannt, und um das bekannte Ergebnis erzählt dann Ovid diese Metamorphosen, die Verwandlungen: Aus A wird B, B ist bekannt, aber es gab vorher A. Das ist eine klassische antike Erzählweise.“

„Suchen Sie nicht ernstlich nach der Wahrheit …“

Nicht nur unsere Märchen haben ihren Ursprung in dieser mystischen Tradition, in der die Veränderung adressiert wird. Auch die Bibel ist in dieser antiken Erzählweise verfasst. Der sehr kunstvolle Text verwendet ebenfalls Allegorien für Dinge, auf deren Bedeutung explizit hingewiesen werden sollte. Alle großen Mystiker, die sich mit diesem hochkomplexen Stoff auseinandersetzten, haben das verstanden. Unser heutiges Problem ist aber, dass wir diese antiken bildhaften Erzählungen der Bibel nicht mehr wie die antiken Menschen allegorisch oder hinweisend, sondern vielmehr wortwörtlich lesen – wie eine Geschichte, eine Beschreibung, einen Roman. Wir sind in dieser Hinsicht verbildet. Daher muten jene alten Geschichten teilweise befremdlich an und sind „für einen modernen, zweifelnden Menschen außerordentlich schwierig nachzuvollziehen“, wie Michael Wolffsohn schlussfolgert. Dass beispielsweise Maria schwanger wird, obwohl sie, wie es in der Bibel heißt, „von keinem Manne weiß“ (LUK 1:34) ist kein (und war nie ein) Tatsachenbericht, sondern es stellte eine in der Antike jedermann verständliche Botschaft dar: Sieh her, hier passiert Außerordentliches schon im Anfang der ebenfalls allegorisch bedeutsamen Figur Jesus. (Wie Wolffsohn bemerkt, ist diese Botschaft übrigens symmetrisch vergleichbar mit der biblischen Erzählung von Sarah, die – ebenso unglaublich – mit 90 Jahren Jizchak, also Isaak, gebar, dem ja ebenfalls eine besondere Bedeutung zukommt.)

Auch die rituell geprägte freimaurerische Gedankenwelt steht in dieser alten erzählerischen Tradition der Mystik. Wir können deshalb den Suchenden, aber auch oft den Lehrlingen, Gesellen und jungen Meistern kaum vermitteln, was wir tun, wie wir genau an uns arbeiten. Auch bei uns stehen Allegorien, Reisen und Symbole gleichnishaft für etwas, was nicht vordergründig erkennbar, aber sehr wichtig ist. Auch hier geht es um Veränderung. Im Kern wird ebenfalls die Wahrheit angesprochen, aber wie ist das gemeint? Bei der Aufnahme sagt der Meister vom Stuhl zu dem Kandidaten: „Mein Herr! Suchen Sie nicht ernstlich nach der Wahrheit und ringen Sie nicht mit der Kraft der Sehnsucht nach menschlicher Vollendung, so verlassen Sie diesen Ort, ehe Sie uns und sich selbst eine Enttäuschung bereiten.“ Und an anderer Stelle führt er aus: „Schon im Altertum hatten sich die Eingeweihten in einen Schleier der Verborgenheit gehüllt, um die Mysterien der Weisheit feiern zu können. Die dabei üblichen symbolischen Reisen waren ein Bild des Suchens und Strebens nach Licht und Wahrheit.“

Die Loge befindet sich in uns

Alle freimaurerischen Sinnbilder haben mehrere Bedeutungen zugleich, die sich überlagern. Für den jungen Maurer, womöglich noch mit wissenschaftlicher Ausbildung, ist das oft ungewohnt und eine Sicht, die er sich erst mühsam erarbeiten muss. Doch nur dann nähern wir uns dem Gehalt der spekulativen Freimaurerei, wenn wir die Überlagerungen sehen, verstehen, verinnerlichen. Das Winkelmaß etwa steht für Rechtschaffenheit im Betragen, aber es steht zugleich auch für das Viereck, die Materie. Der Zirkel ist das Symbol der Liebe, er steht aber auch für das Dreieck, den Geist. Verwandlungen von einer Bedeutung zur anderen gibt es in den Ritualen mehrfach, etwa vom Profanen zum Freimaurer, vom einfachen Raum in einen Tempel usw. All das hat seine Entsprechungen und Analogien im Inneren des Menschen und muss auch so verstanden werden. Der Tempel und somit die ganze Loge mit allen Symbolen, Werkzeugen und sogar den Beamten befindet sich im Inneren eines jeden von uns, wir haben den ganzen, voll ausgestatteten freimaurerischen Hausrat im Inneren ständig dabei. (Im Feldlogenritual meiner Mutterloge heißt es diesbezüglich so schön wie passend: „Die Ordnung sei in uns!“) Die Wahrheit wird damit innerlich, nicht auf das Äußere gerichtet. Die Allegorien und Symbole der Freimaurerei stehen alle zusammen letztlich für die große Wahrheit, die jeder in sich selber finden kann. Das „Erkenne Dich selbst“ ist ein Aufruf, dabei seine Grenzen zu erfahren. Es ist ein Aufruf, sich stets zu überprüfen und seinen Weg zu justieren. In dem für uns so wichtigen Johannesevangelium steht:

„Es war ein Mensch, von Gott gesandt, der hieß Johannes. Der kam zum Zeugnis, dass er von dem Licht zeugte, auf dass sie alle durch ihn glaubten. Er war nicht das Licht, sondern er sollte zeugen von dem Licht. Das war das wahrhaftige Licht, welches alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen.“ (JOH 1:6)

Das ist als Aufforderung an jeden suchenden Geist zu verstehen – auch und besonders an uns Freimaurer. Echte Freimaurerei lässt sich nicht auf geselliges Beisammensein, auf Einübungsethik und auf verstaubte Tradition reduzieren. Freimaurerei ist Arbeit, stete Arbeit. Und sie wirft – ernst betrieben – immer neue Fragen auf. Das weiß jeder engagierte Bruder Freimaurer. „Schau in Dich – Schau um Dich – Schau über Dich!“ Das sind die drei Aufforderungen, die sich ein Freimaurer stets ins Bewusstsein rufen muss. Mit diesen drei Aufforderungen, deren zutiefst allegorischer Sinn sich mit der Zeit immer weiter enthüllt, suchen wir „ernstlich nach der Wahrheit“, wie es unser Aufnahmeritual nennt. Wir müssen dazu unsere Metalle ablegen, uns auf die Umgebung verlassen, uns vorurteilsfrei und rein auf sie einlassen, während wir im übertragenen Sinne unsere Augen verschließen, damit uns die Wahrnehmung der zwar sichtbaren, aber dennoch nur scheinbaren Welt nicht verwirrt. Nach Sokrates beginnt nämlich das Auge des Geistes erst dann scharfsehend zu werden, wenn das Auge des Leibes seine Schärfe zu verlieren beginnt (Platon: „Sokrates beim Symposion“). Doch obwohl auch dies allegorisch gemeint ist: „Arm, hilflos und blind“ wollen die wenigsten von uns weder durch das Leben noch auf die Suche nach der Wahrheit gehen. Wir wollen uns auf unsere vermeintliche Erkenntnis und Urteilskraft verlassen, selbstbewusst und stolz. Meine Sinne und mein Verstand weisen mir doch den Weg zur Wahrheit! Unser Bruder Samuel Langhorne Clemens – besser bekannt unter seinem Pseudonym Mark Twain – bemerkte dazu: „Noch niemals sah ich einen Menschen, der wirklich die Wahrheit sucht. Jeder, der sich auf den Weg gemacht hatte, fand früher oder später, was ihm Wohlbefinden gewährte. Und dann gab er die weitere Suche auf.“

Das Transzendente mit dem Diesseitigen verbinden

Doch wie passt dieses Verhalten zu einem Freimaurer? Einem Wahrheits- und Lichtsucher? Haben wir die Suche bereits aufgegeben? Und ereilt uns die innere Wahrheit vielleicht trotzdem? Martin Luther drückt aus: „Der Wein ist stark, der König ist stärker, die Weiber noch stärker, die Wahrheit am allerstärksten.“ (Luther bezog sich dabei auf das Buch Esdras. Dort ist geschildert, wie Zorobabel bei einem Wettstreit vor dem König Darius mit der Aussage, die Wahrheit sei von allen Mächten die stärkste Macht, seinem jüdischen Volk den Weg aus der Gefangenschaft zurück nach Jerusalem öffnete, wo es den Tempel wieder aufbaute.)

Ein wesentliches Ziel der Freimaurerei in den verschiedenen Riten ist es nach meiner Überzeugung, den Brüdern durch Selbsterfahrung, Ritual und Einblicke in Zusammenhänge zu mehr Resilienz zu verhelfen. Im Idealfall entsteht eines Tages im Herzen des suchenden Freimaurers entweder allmählich oder auch ganz plötzlich eine unerschütterliche Wahrheit, sich selbst und seinen spirituellen Weg betreffend. Es ist eine ganz andere, eine mystische Art von Wahrheit, eine, um deren Wichtigkeit auf dem persönlichen Weg die alten, spirituellen Gemeinschaften wussten, ebenso wie unsere freimaurerischen Ahnen. Diese Art der Wahrheit lässt sich auch nicht in Worte fassen oder irgendwie anders beschreiben, man muss sie erleben und verinnerlichen. Die Botschaft lautet: Sie wird Dich aufrichten – In Dir ist Stärke. Der außergewöhnlich erscheinende Mut und die klare, aufrechte Haltung von besonderen Menschen, die von ihrer Umwelt als „Weise“ oder „Heilige“ bezeichnet wurden, wird dadurch ebenso verständlich wie jener Satz im A.F.u.A.M.-Ritual: „Unbeirrt vom Lärm der Welt geht der Maurer seinen Weg, ruhig und sicher, furchtlos in Gefahren, hohe Ziele vor Augen.“

Der Freimaurer nähert sich dem Transzendenten, dem nicht Erkennbaren und verbindet es mit dem Hier und Jetzt. So findet er die Wahrheit und handelt so, dass er sich und anderen selber jeden Tag aufrichtig in die Augen schauen kann.

Recht passend scheinen mir zum Abschluss die Worte von Br. Goethe zu sein, die er an den Anfang seines „Faust“ stellt und die das dazugehörige Loslassen illustrieren:

Und mich ergreift ein längst entwöhntes Sehnen
Nach jenem stillen, ernsten Geisterreich,
Es schwebet nun in unbestimmten Tönen
Mein lispelnd Lied, der Äolsharfe gleich,
Ein Schauer fasst mich, Träne folgt den Tränen,
Das strenge Herz, es fühlt sich mild und weich;
Was ich besitze, seh ich wie im Weiten,
Und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten.

Dieser Beitrag stammt aus dem Heft 2-2021 der HUMANITÄT, dem deutschen Freimaurer-Magazin. Das Heft kann bei der Kanzlei abonniert werden.