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Wie wir streiten

Foto: Helder Almeida / stock.adobe.com

Der Autor hat jüngst unseren heutigen medialen Umgang miteinander als „kommunikativen Bürgerkrieg“ bezeichnet gesehen. Das erschien ihm bei allem Problembewusstsein doch etwas dick aufgetragen.

Von Karl-Heinz Hofacker

Wenn man sich vorsätzlich aus der Komfortzone einer eher konservativ-zivilisierten Mediennutzung – renommierten Zeitungen und Magazinen, öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten, niveauvollen Blogs und Podcasts – heraus und mit offenen Augen in die für viele, insbesondere jüngere Menschen, heute weit relevantere freie Wildbahn der sogenannten „sozialen“ Medien und die weite Welt der Onlineforen und Chats hineinbegibt, dann erscheint der Ausdruck „kommunikativer Bürgerkrieg“ ganz und gar nicht unangemessen. Was da nicht selten, ja beinahe schon routinemäßig aus nichtigem Anlass an unverhohlenem Hass, an Gewaltfantasien und schlichtem Dreck über Menschen ausgekübelt wird, spottet jeder Beschreibung. Der Begriff „Shitstorm“ bezeichnet das nur sehr unzureichend. Da wird die Menschenwürde der Adressaten – und übrigens auch die der Absender selbst, was diese offenbar gar nicht merken – in unerträglicher Weise mit Füßen getreten, ohne die Sache in einer Weise voranzubringen. Mein Beitrag kreist also um den Satz „Wie wir streiten!?“ in seiner Doppelnatur als Stoßseufzer und als Frage.

Ich möchte meine Gedanken zum Thema mit einer Klammer, einer Art zweiter Ebene versehen, denn ein zufällig aus dem Regal gegriffenes Buch und eine willkürlich aufgeschlagene Seite verschaffte mir neulich einen überraschenden Zugang zu diesem Thema. Ich erwischte die bereits 1966 erschienen „Sterntagebücher“ des heute leider kaum noch bekannten polnischen Autors Stanisław Lem, die mit ebenso hemdsärmeligem wie hintergründigem Humor und philosophischem doppeltem Boden von den Abenteuern des Ijon Tichy erzählen, einer Art Kreuzung aus einem Weltraum-Münchhausen und Till Eulenspiegel. Dessen „Siebente Reise“ hat in etwa folgenden, nicht ganz unkomplizierten Verlauf:

Ijon Tichy ist allein im Weltall unterwegs, als ein Meteorit die Steuerung seines Raumschiffs zerstört. Für die Reparatur wird nun eine weitere Person benötigt, die eine Mutter festhält, während die andere die dazugehörige Schraube anzieht. Allein kann Tichy den Schaden nicht beheben. So rast seine Rakete ungesteuert in einen unbekannten Raumsektor mit seltsamen physikalischen Phänomenen. Bald findet sich der Held in einer Zeitschleife wieder, in der sich seine Rakete mit immer mehr Kopien seiner selbst füllt, die alle in ihrer eigenen, zunächst nur um wenige Stunden versetzten Zeit leben. Es gibt den Freitags-Tichy, den Montags-Tichy, den Vor-Zwei-Stunden-Tichy und so weiter. Verzweifelt versucht der Held, eines seiner vielen in anderen Zeiten lebenden Ichs zu überreden, mit ihm gemeinsam das Raumschiff zu reparieren, was zu Streitigkeiten führt und schließlich in einer Massenschlägerei der mittlerweile Dutzenden von Tichys endet. Unterdessen reparieren zwei kleine Jungs, Tichy-Ausgaben im Kindesalter, das Raumschiff, sodass die Steuerung wieder funktioniert, der gefährliche Raumsektor verlassen werden kann und alles zu einem guten Ende kommt.

Lassen wir das erst einmal so stehen, wir werden darauf zurückkommen. Das eigentliche Thema verfehlend, sei hier aber die Bemerkung gestattet, dass dieses bezaubernde Happy End der Geschichte, in dem das eigene Ich als Kind das Problem löst, an dem das erwachsene Ich scheitert, für mich ein magisches Bild für die menschliche Wahrheit ist, dass niemand den kleinen Jungen bzw. das kleine Mädchen vergessen sollte, der oder das er oder sie einmal gewesen ist und der oder das daher unabweisbar Teil auch der reifen Persönlichkeit ist, dem fallweise durchaus einiges zuzutrauen ist.

Zurück zum öffentlichen Streit und dazu, warum der heute bisweilen so unerquicklich ist. Auseinandersetzungen haftet etwas Negatives an, sind sie doch das Gegenteil angeblich anzustrebender Harmonie. Dennoch wissen wir: In unserer freiheitlich-pluralen, vielfältigen Gesellschaft ist konstruktiver Streit unumgänglich. Für das Ziel eines friedlichen Zusammenlebens in Freiheit ist eine Konsensbildung naturgemäß nie deckungsgleicher, oft weit auseinanderliegender Interessen erforderlich. Dafür kennt der demokratische Staat den öffentlichen Diskurs, in dem die unterschiedlichen Standpunkte gleichermaßen „zu Markte getragen“ werden. Prinzipiell jeder kann seine Interessen darlegen und seine Argumente ins Feld führen. Andere Auffassungen haben sich daran zu prüfen und gegebenenfalls zu korrigieren – so weit die Theorie. Die Strukturen unserer Gesellschaft müssen all dieses ermöglichen und gewährleisten – hier läuft auch nicht immer alles ganz rund, aber darum soll es hier nicht gehen. Auch geht es mir hier nicht um die vielfältigen Möglichkeiten, Kommunikation gezielt manipulativ einzusetzen, um bestimmte Ziele zu erreichen; Desinformation, Fake News, Framing, Dekontextualisierung etc. sind leider heute vielfach bis in die Mitte unserer Gesellschaft zum Normalfall geworden. Mir geht es, freimaurerischer Tradition folgend, darum, beim Ich, beim eigenen rauen Stein anzufangen. Mich interessiert die Frage, welche in uns selbst, also in unserem direkten Einflussbereich liegenden, in der Natur des Menschen wurzelnden Ursachen und Mechanismen uns gedeihliche, sachorientierte Auseinandersetzung heutzutage so schwer machen. Zugang dazu gewährt uns die Psychologie, die klar und wissenschaftlich gut gesichert sagt: Wir haben keine Meinungen, wir sind vielmehr unsere Meinungen. Unsere Position in gesellschaftlichen Fragen ist uns Identität. Mir erklärt diese These viele Phänomene in unserer modernen Kommunikation.

Als soziale Wesen suchen wir Menschen gerne Schutz und Geborgenheit in der Sippe, einer Gruppe uns ähnlicher Artgenossen also, die bitte nicht sehr anders als wir sein sollen. Ganz analog dazu nutzen wir als Bürger mit einer Position im Diskurs bevorzugt Medien, die Positionen vertreten, die bereits weitgehend unserer Meinung entsprechen. Meinung ist Gruppenzugehörigkeit und definiert zu einem großen Teil, in welcher Medienblase wir unterwegs sind. Dass etwa ein linksliberaler Wähler der Grünen die konservative Neue Zürcher Zeitung liest, ist selten. Das führt unweigerlich zu einseitiger Aufnahme von Informationen, bei der Fakten, die nicht zur eigenen Meinung passen, gerne unter den Tisch fallen. Die hohe Meinung, die wir von unserem Informationsstand, von unserem Faktenwissen in der Regel haben, bedarf also sehr wahrscheinlich kritischer Prüfung; hier überschätzen wir uns häufig. Wer sich jetzt beruhigt innerlich zurücklehnt, sei gewarnt: Studien belegen, dass dieses unschöne Phänomen besonders höhere Bildungsschichten und gesellschaftlich aktive Menschen betrifft. Wenn uns handfeste Fakten aber von außen trotzdem erreichen und eine Meinungsänderung nahelegen, ist eine weitere Hürde zu nehmen: wird uns die Meinungssippe noch akzeptieren, wenn wir abweichender Meinung sind? Die Angst vor dem Verlust der Wärme der vertrauten Gemeinschaft, vor dem Ausgestoßensein erfordert Mut, den wir bei der Bildung einer unvoreingenommenen Meinung aufbringen müssen.

Wenn wir aber im anderen Extrem, aus welchen Gründen auch immer, die Segnungen der Sippe, nämlich emotionale Wärme und Zugehörigkeit, dauerhaft entbehren, also in sozialer Kälte, Angst und Einsamkeit leben oder uns in anderer Weise gegenüber anderen zurückgesetzt fühlen, dann ist das ein fruchtbarer Nährboden für radikale Ansichten und Extremismus. Die Vereinsamung vieler Menschen in unserer heutigen Gesellschaft ist eine direkte, wenn auch nicht die einzige Ursache für das Erstarken der extremen Ränder des politischen Spektrums. Maß und Mitte werden nicht mehr als tauglich bewertet, wahren oder vermeintlichen Missständen abzuhelfen. Die Geschichte zeigt bis in aktuelles Kriegsgeschehen, dass durch dauerhaft menschenunwürdige Lebensbedingungen ganze Bevölkerungen radikalisiert werden können. Der so geschürte Hass lässt sich schließlich perfide für ganz andere Interessen instrumentalisieren.

Nicht zuletzt neigt der Mensch als soziales Wesen, dessen Horizont Jahrtausende lang die eigene überschaubare Sippe nicht überstieg, dazu, Erfahrungen und Aussagen seiner persönlichen Umgebung eher zu trauen und stärker zu gewichten als etwa Statistiken oder Forschungsergebnisse, die von anonymen Institutionen bereitgestellt werden. Persönliche Erfahrung schlägt abstrakte Fakten. Weil aber die Probleme und Streitpunkte einer Gesellschaft meist weit über den persönlichen Erfahrungshorizont hinausweisen, schweben wir ständig in der Gefahr, durch Überbewertung unserer eigenen Erfahrungswelt zu Fehlurteilen zu gelangen.

Auch unsere mal mehr, mal weniger ausgeprägte Eitelkeit prägt öffentliche Auseinandersetzungen. Wenn wir keine Meinungen haben, sondern unserer Meinungen sind, dann ist es nur logisch, dass wir uns durch Menschen mit anderen Positionen auch persönlich angegriffen fühlen: aus „dieses oder jenes Argument sticht“ wird ganz schnell: „ich oder er“ respektive „wir oder sie“. Unangemessene Schärfe in der Auseinandersetzung und Gegenangriffe auf gleichfalls persönlicher Ebene sind oft die Folge, die Gürtellinie wird schnell unterschritten – der Shitstorm tobt, der Diskurs stirbt.

Auf demselben Humus gedeiht auch der erstaunliche Erfindungsreichtum mancher Menschen, die Schwäche der eigenen Position zu überspielen, um drohende persönliche Niederlagen – so empfinden wir das dann ja – abzuwenden. Mit allerlei Tricks und Kniffen, die auch bei bewussten Manipulationsversuchen angewendet werden, von der Unterschlagung von Fakten über Halbwahrheiten und mehr oder weniger dreiste Lügen bis zu hoch entwickelter Rhetorik werden alle Register gezogen. Im verzweifelten Bestreben, mit der eigenen Position letztlich die eigene Identität zu schützen, wird Menschen mit abweichenden Meinungen gar unterstellt, geheime Pläne mit ganz anderen Zielen in einem größeren Zusammenhang und zum Schaden der „einfachen Leute“ zu verfolgen – so erklären sich die vielen hanebüchenen Verschwörungstheorien, in denen immer wieder dieselben üblichen Verdächtigen – Juden, Großkapital, Freimaurer, je nach Geschmacksrichtung auch diverse Eliten oder „links-grün-versiffte“ Elemente etc. – angeblich die wahre Macht ausüben.

Wir haben keine Meinungen, wir sind unsere Meinungen – das heißt unweigerlich: wollen wir unsere Meinungen ändern, müssen wir uns ändern. Darum macht es uns unsere Natur als von der Evolution geprägte Wesen, machen wir selbst es uns so schwer. Dem aber sind wir nicht ausgeliefert, das können wir durch Arbeit an unserem rauen Stein beeinflussen. Verständliche, konstruktive und lösungsorientierte Kommunikation wird aber auch erschwert durch die komplexen, heute oft unverstandenen Mechanismen moderner Demokratien mit Gewaltenteilung, imperativem Mandat, Föderalismus und öffentlich-rechtlichen Institutionen im Umfeld einer hochgradig arbeitsteiligen Wirtschaft und einer wissenschaftlichen Forschung, die in einem für Nicht-Wissenschaftler kaum einzusehenden eigenen Universum unterwegs zu sein scheint. Das alles zu würdigen, würde den eh zu weit gesteckten Rahmen dieses Beitrags sprengen. Beschränken wir uns wieder auf die Aspekte, die wir selbst beeinflussen können.

Nur ein gemeinsames Verständnis von der Welt auf Basis allgemein anerkannter Fakten erlaubt das Lösen gesellschaftlicher Probleme und Konflikte im demokratischen Konsens; Fakten sind unentbehrliche Grundlage für Entscheidungen. In einer so komplexen und für den Einzelnen nicht mehr in allen Verästelungen überschaubaren Welt wie der unseren muss die Sicherung und vernünftige Bewertung von Fakten an vertrauenswürdige, transparente und kontrollierte Institutionen delegiert werden. Das verlangt von jedem von uns auch, dass wir uns immer wieder neu auf den Bildungs- und Informationsstand bringen, die Arbeit dieser Institutionen beurteilen zu können, und auch, so festgestellte, aber möglicherweise unliebsame Fakten anzuerkennen und in unser Urteil einzubeziehen. Anders ausgedrückt: Vernunft ist nicht das Genie Einzelner, sondern als unverzichtbarer Bestandteil der Demokratie eine öffentliche Instanz.

Ganz entscheidend für uns alle ist auch, das eigentliche Ziel demokratischer Auseinandersetzungen nie aus den Augen zu verlieren: die Bildung eines Konsenses nämlich, die Einigung! Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn alle Streiter ergebnisoffen für ihre Überzeugungen kämpfen. Das Ziel ist der Ausgleich, nicht der totale Sieg einer Seite! Vernünftiger, Realität anerkennender und auf Ausgleich bedachter Diskurs setzt voraus, dass wir uns dem vernünftigeren Argument ohne Wenn und Aber beugen, bis hin zu der möglicherweise im Einzelfall bitteren Konsequenz, dass wir mit unserer Meinung auch uns selbst ändern müssen. Eine einfache Selbstprüfung, ob man offen in eine Auseinandersetzung geht, ist, sich die Frage zu beantworten: „Mit welchem Argument könnte mich die Gegenseite von ihrer Meinung überzeugen?“ – fällt einem da nichts ein, ist selbstkritische Vorsicht geboten.

Was aber hat das eigentlich alles mit dem eingangs erwähnten Raumhelden Ijon Tichy zu tun? Nun, der Witz der Geschichte liegt ja darin, dass Tichy sich nicht mit irgendwelchen Anderen, sondern immer mit sich selbst streitet. Wie ich das verstehe, dazu rufe ich als Zeugen den großen amerikanischen Photographen Gordon Parks auf. Parks schuf einige der fotografischen Ikonen des 20. Jahrhunderts und war insbesondere für seine emphatischen sozialkritischen Reportagen bekannt. Der seltsame Titel der grandiosen Ausstellung, die ich 2016 in Berlin besucht habe, nämlich „I Am You“ („Ich bin Du“), erklärt sich aus Parks’ künstlerischer Position: Er betrachtete den fotografischen Blick sowohl auf die Schattenseiten als auch auf die Schokoladenseiten der amerikanischen Gesellschaft als Blick in einen Spiegel, in dem er auch immer sich selber sah. Das weist ihn als bedeutenden Humanisten aus, der aus der Empathie mit dem Gegenüber immer auch die eigene Verantwortung ableitete, stets auch heruntergekommene oder abgehobene Existenzen als Menschen mit der unveräußerlichen Würde zu sehen, die allen Menschen zukommt, als Teil des großen Geleitzuges der Menschheit, die letztlich gemeinsame Interessen hat, als Teil der geschlossenen Karawane, die einer glücklichen Zukunft entgegenzustreben sucht. Genau das hat Stanisław Lem – wenngleich ganz anders, mit den Mitteln des Schelmenromans und der Groteske – auch in seiner absurden Geschichte ausgedrückt: wenn wir mit anderen streiten und dabei ein Mindestmaß an Empathie aufbringen, streiten wir uns letztlich zu einem nicht geringen Teil auch und manchmal sogar vorwiegend mit uns selbst. Vergessen wir in der Auseinandersetzung nie: „Ich“ bin „Du“!

Wir müssen streiten, um Einvernehmen zu erzielen. Wir müssen abrüsten, um im Streit zu bestehen. Selbstsucht nötigt uns zu Empathie. Wir müssen uns zusammensetzen, um uns auseinandersetzen zu können. Wie so oft knallen wir also wieder der Länge nach auf das Musivische Pflaster: Ein Sammelsurium von Widersprüchen bildet letztlich in ihrer Gesamtheit eine unteilbare Wahrheit.

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