© Philip Steury / photodune
“Erkenne Dich selbst” ist beginnend mit der Aufnahme die vornehmliche Aufgabe eines Freimaurers. Für unseren Autor ist die “Psychologie der Selbstachtung” dabei ein wichtiges Element.
Von Br. Harald E. Meyer aus der Berliner Loge “Avantgarde”
Vor einiger Zeit bin ich einmal wieder auf den Begriff “Selbstachtung” aufmerksam geworden. In einem Artikel im “Tagesspiegel” wurde eine neuere Richtung der Psychologie angesprochen, die als “Psychologie der Selbstachtung” bezeichnet wird.
Viele Selbst-Wörter, gerade wenn sie das “Ich” betonen, haben ja einen negativen Beigeschmack: Selbstzufriedenheit, Selbstüberschätzung, Selbstverliebtheit, Selbstherrlichkeit – all diesem stehen wir skeptisch bis sehr kritisch gegenüber. Und wenn einmal eines dieser Selbst-Wörter positiv besetzt ist, wie z.B. die Selbstlosigkeit, dann legt es uns nahe, besser auf unser Selbst zu verzichten. Denn es ist eher angesagt, selbstkritisch zu sein als sich zu sehr zu mögen. Und die Psychologie der Selbstachtung sagt uns nun, dass wir mit Problemen des täglichen Lebens oder mit Krisen besser fertig werden, wenn wir positiv zu uns selber stehen.
Mein erster Gedanke war: Interessanter Begriff, interessantes Thema, könnte das etwas mit Freimaurerei zu tun haben? Mit der Arbeit an uns selbst und ihren Wirkungen? Und eine weitere Assoziation war die Behauptung von Br. Philip Militz, Freimaurerei sei das wohl erfolgreichste Persönlichkeitstraining der Weltgeschichte.
Wenn wir uns selbst achten sollen, müssen wir uns selbst kennen. Und die Aufforderung zur Selbsterkenntnis ist das Wichtigste, was uns allen in der Freimaurerei begegnet. Bei unserer Aufnahme hörten wir in der Mitte der dritten Reise nach einem überraschenden Hammerschlag aus dem Munde des Meisters: “ERKENNE DICH SELBST!”
Hier geht es nicht nur um die Stellung des Menschen im Weltgefüge und die Erkenntnis unserer Begrenztheiten. Nein, es handelt sich ganz konkret um die Aufforderung, mich selbst zu prüfen und die eigenen menschlichen Stärken und Schwächen anzuschauen. In unserem Ritualkontext ausgedrückt: nicht nur die Ecken und Kanten unseres Rauen Steines zu betrachten, sondern auch die Strukturen dieses Steines zu erkennen. Denn wenn wir im Anschluss mit der Bearbeitung dieses Rauen Steines – mit der Entwicklung unserer Persönlichkeit – beginnen, dann hilft es nicht, sinnlos drauflos zu hämmern. Sonst erzeugen wir ganz schnell Bruch. Unser Stein, unsere Persönlichkeit, will erst genau erkannt und gekannt sein, muss in seinen Strukturen beachtet und geachtet werden, damit bei der folgenden Bearbeitung kein Unglück, kein Bruch, geschieht. Außerdem wollen wir in den Logen die Einzigartigkeit jedes Bruders bewahren und sie nur weiterentwickeln, nicht brechen. Wir legen Wert auf bleibende Individualität, möchten im freimaurerischen Prozess keine gleichförmigen Backsteine erzeugen, sondern in der Tradition der Freestone Masons einzigartige Kunstwerke, die sich dennoch in den großen Bau der Humanität einfügen. Und die Stein-Künstler achteten schon seit jeher sorgsam auf die Struktur ihrer Steinblöcke, umrundeten sie zuerst aufmerksam und bekamen mit ihrer Erfahrung bald einen Eindruck davon, was für ein Kunstwerk in diesem rohen Stein verborgen war und eigentlich nur noch herausgearbeitet werden musste.
Ich spreche hier vom Achten auf Strukturen, von der Achtsamkeit der Stein-Künstler vor und bei der Arbeit. Und wenn es in der Freimaurerei um die Bearbeitung der eigenen Persönlichkeit geht, dann sprechen wir von Achtung auf uns selbst – und dies ist für mich der erste wesentliche Aspekt der Selbstachtung: Achtung auf mich selbst. In diesem Sinne heißt Selbstachtung, achtsam und vorsichtig mit mir selbst umzugehen. Hierfür kennen wir auch den Begriff der Nachhaltigkeit im Umgang mit uns.
Wir sollten uns nicht überschätzen und uns nicht auf Dauer zu viel zumuten. Bezogen auf die Zeit haben wir als Freimaurer das Symbol des 24-zölligen Maßstabs, mit dessen Hilfe wir unsere Zeit mit Weisheit einteilen sollen. Doch natürlich gilt diese Forderung nach weiser Einteilung auch für unsere anderen begrenzten Ressourcen: Unsere körperlichen und seelischen Kapazitäten sind begrenzt und brauchen Zeit zur Regeneration. Plötzliche starke Belastung kann zum Zusammenbruch führen, aber auch langsamer Raubbau macht sich auf Dauer in Erschöpfung bemerkbar. Nicht nachhaltig.
Doch machen wir uns nichts vor: Auch das Gegenteil, die dauerhafte Unterforderung, tut uns nicht gut. Wir wissen, dass Menschen in ihrer geistigen und körperlichen Kondition abbauen, wenn sie sich gehen lassen und nicht aktiv sind. Dies ist wohl das Problem vieler Berufstätiger in ihrem Ruhestand, wenn sie nicht rechtzeitig für erfüllende und anregende weitere Beschäftigung gesorgt haben. Nicht nachhaltig.
Vielleicht könnten wir die Schlussworte des Meisters am Ende der Arbeit, wenn er uns auffordert: “Seid wachsam auf Euch selbst!”, auch einmal unter dem Gesichtspunkt bedenken, achtsam mit uns selber umzugehen.
Der zweite Aspekt der Selbstachtung, den ich ansprechen möchte, ist die Achtung vor mir selbst, der Respekt und die (wohlwollende) Wertschätzung der eigenen Person. Dies ist wohl die übliche Vorstellung, wenn wir an den Begriff “Selbstachtung” denken. Und diese Interpretation liegt auch der Psychologie der Selbstachtung zugrunde. Wenn wir positiv zu uns stehen, werden wir nicht nur mit all den kleinen und größeren alltäglichen Problemen besser fertig, als wenn wir uns immer kritisch sehen und eigentlich nichts zutrauen. Das hat viel mit Zuversicht und positivem Denken zu tun. Das strahlt aus – nach innen wie auch nach außen. Wir alle kennen den Spruch: “Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es zurück.”. Wer bei jeder neuen Aufgabe zuerst denkt: “Das schaffe ich wohl nicht!”, konzentriert sich automatisch auf die Hindernisse und Schwierigkeiten, sieht jede Aufgabe als Problem und braucht doppelte Kraft, sich dennoch zu motivieren und Lösungen zu suchen. Wer dagegen positiv zu sich selber und seinen Fähigkeiten und Ressourcen steht und eine neue Aufgabe vor allem als Chance begreift, konzentriert sich viel leichter auf Lösungen und ist deshalb auch erfolgreicher. Und nebenbei: sowohl kreativer als auch zufriedener.
Doch nur positiv zu sich selber zu stehen, reicht nicht ganz. Diese Wertschätzung des Selbst muss schon hinterlegt sein mit Werten von uns, damit sie nicht ins Leere läuft. Die Maurerei im Allgemeinen und unser Ritual im Besonderen geben uns ja ausreichend Anlässe, über Werte nachzudenken und Tugenden einzuüben, im Tempel eher theoretisch, aber gedacht ganz praktisch für unser normales profanes Leben. Und wer sich “gut”, d.h. moralisch verhält in seinen täglichen Situationen der Entscheidung und des Umgangs mit anderen Menschen, der kann auch beruhigt “in den Spiegel schauen”. Er hat Grund, sich zu achten und wertzuschätzen, er kann mit sich im Reinen sein.
Ist es nicht dies, was Freimaurerei erstrebt, wenn sie sich als Aufgabe stellt, gute Männer besser zu machen (“to make good men better”)?
“Gut” heißt hier: Ein Bewusstsein für menschliche Werte zu haben und den Wunsch, im Kreise ähnlich denkender Menschen sich weiterentwickeln zu wollen. Wir sagen hierzu: Suchender zu sein. “Besser” heißt hier: An sich zu arbeiten und dabei hohe, aber nicht unrealistische Ziele zu verfolgen. Wir sind alle fehlbar, nicht jede Arbeit gelingt uns und wir wissen auch, dass ideale Werte nur näherungsweise erreichbar sind. Doch ich schätze sehr den Ausspruch: “Wir können die Sterne nicht erreichen. Doch wer sich nach ihnen ausrichtet, kann nicht gleichzeitig mit den Händen im Dreck wühlen.”
Wir haben in unseren Tempeln das Buch des Heiligen Gesetzes als Symbol für alle Regeln, nach denen wir uns ausrichten. Gleichzeitig kennen wir viele Symbole aus der Werkmaurerei, die uns in konkreteren Situationen Anleitung für unser Handeln geben können und sollen. Wenn wir auf diese Symbole achten, handeln wir ehrenhaft und haben allen Grund zu Selbstachtung. Und das Schöne ist: Wer sich selbst achtet, ist sich seiner selbst sicher und kann auch sein Gegenüber, seinen Gesprächs- oder Geschäftspartner, achten, respektieren und wertschätzen, auch bei unterschiedlichen Interessen und Meinungen.
Das bisher Gesagte gilt ebenso für unsere Loge Avantgarde. Wir setzen uns ehrgeizige Ziele, wir arbeiten an uns, nicht nur persönlich als Brüder, sondern auch als Loge Avantgarde, an unseren Bruderabenden und mit dem Ritual – und auch hier gilt das Gebot, sich nicht zu überfordern, aber auch nicht zu unterfordern. Das durch unsere aktive Arbeit entstehende Selbstbewusstsein, unsere Selbstachtung, strahlt dann aus jeder unserer Arbeiten und Bruderabende sowie aus uns Brüdern aus und verstärkt in der Folge wiederum unsere Reihen. Mit dieser durch eigene Arbeit begründeten Selbstachtung können wir als Vertreter unserer Loge überzeugt sprechen.
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