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Von Engelbert Rottenmoser
Bei einem Besuch der 2000 Jahre alten Arena in Verona 2016 standen davor zwei Skulpturen, vermutlich vorbereitet für eine Ausstellung, die den brutalen, gewaltsamen Kampf von Gladiatoren darstellen. Kampf und Gewalt als Kontrapunkt zum Thema Frieden.
Einführung
Ich brauche nicht zu betonen, dass heute brutale Gewaltbilder in den Medien fast zur täglichen Routine unserer lebensweltlichen Wirklichkeit gehören, wir sehen die Kriegsbilder aus aller Welt, aktuell aus der Ukraine, die realen Terrorakte und -androhungen, sog. Amokläufe finden fast vor unserer Haustüre statt, von Mord und Totschlag in den ungezählten Fernsehkrimis ganz abgesehen. Wie wollen und sollen wir da Frieden schaffen? Hierzu stelle ich meine persönliche Stellungnahme vor, die sich angesichts des sehr weit gefassten Themas auf wenige, aber meines Erachtens doch entscheidende Gesichtspunkte beschränkt: Zunächst einige Erläuterungen zum Begriff des Friedens und der Friedensforschung; sodann zu den Phänomenen Macht, Herrschaft, Gewalt, Aggression, Furcht, die scheinbar in konträrer Beziehung zum Frieden stehen, aber Bestandteil unserer lebensweltlichen Erfahrung sind; zur Legitimität von Macht und Herrschaft im Sinne friedlichen Zusammenlebens nach dem Freimaurermotto: „Das Gesetz nur kann uns Freiheit geben!“ meine persönliche Sicht zu Forderungen der „Friedensbewegung“ wie z. B. „Schwerter zu Pflugscharen“, „Stell Dir vor es ist Krieg, und keiner geht hin“, „Ohne Soldaten kein Krieg“; schließlich meine Schlussfolgerungen zur Frage: Wie können, wollen und sollen wir als Freimaurer handeln?
Zum Begriff Frieden
Es mag den einen oder anderen erstaunen, dass sich die Bundeswehr seit jeher, und gerade auch die Führungsakademie der Bundeswehr, nicht nur mit dem operativen Einsatz von Streitkräften, sondern im Rahmen der Sicherheitspolitik auch mit Friedens- und Konfliktforschung ernsthaft beschäftigt. Ich bin 1966 als Offizieranwärter in die Bundeswehr eingetreten und in den 60-er Jahren entstand die sog. Friedensbewegung, vorwiegend ausgelöst durch den Vietnamkrieg, und sie hatte ihren Höhepunkt in den 70-er bis in die 80-er Jahre, vor dem Hintergrund des NATO-Doppelbeschlusses, also der Stationierung von Pershing II gegen die SS 20 Mittelstreckenatomraketen. Sich mit den Argumenten dieser Bewegung zu beschäftigen lag auch für mich nahe, da die Soldaten als potenzielle Mörder, Kriegstreiber und Friedensgegner bezeichnet, um nicht zu sagen, beschimpft wurden — gedeckt vom Recht auf Meinungsfreiheit laut Bundesverfassungsgericht. Einen Dialog im Sinne eines Diskurses auf Augenhöhe mit der Bundeswehr gab es damals nicht — meiner Erfahrung nach, weil er von den Friedensaktivisten strikt abgelehnt wurde, die militärische Bundeswehrführung sich heraushielt unter Berufung auf den „Primat der Politik“ und die politischen Parteien sich schwer taten, Position zu beziehen.
Am Volkstrauertag 2021 beklagte Bundespräsident Steinmeier „die Sprachlosigkeit der Gesellschaft“ gegenüber der Bundeswehr als Parlamentsarmee. Die aktuelle Situation scheint sich allerdings angesichts des Realitätsschocks durch die Lage in der Ukraine zu ändern.
Beschäftigt man sich mit dem Begriff Frieden, so stellt man schnell fest, wie schwierig es ist, zu beschreiben oder zu definieren, was Frieden eigentlich ist. Eine kurze und eingängige herkömmliche Beschreibung bezeichnet Frieden als Abwesenheit von Krieg, in der Friedensforschung der 70-er Jahre als negativer Frieden bezeichnet. Dem gegenüber hat der Norweger Johan Galtung, der als einer der Gründer der Friedens- und Konfliktforschung in den 60-er und 70-er Jahren gilt, vom positiven Frieden gesprochen:
Er meinte damit einen Frieden, der nicht allein in der Abwesenheit von internationaler Gewaltausübung besteht, sondern in der Abwesenheit von personaler Gewalt und struktureller Gewalt in allen Gesellschaftsbereichen. Unter struktureller Gewalt verstand er die vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potenziell möglich ist.
Dies ist nun eine derart weitgefasste Beschreibung, die selbst wieder vieler Festlegungen bedarf: Welche Beeinträchtigung ist vermeidbar, welches sind die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse, welche Bedürfnisbefriedigung ist potenziell möglich.
Dieter Senghaas, einer der bekanntesten deutschen Friedensforscher in den 70-er und 80-er Jahren hat hierzu sein „zivilisatorisches Hexagon“ entwickelt, das die Bedingungen und sich gegenseitig beeinflussenden Faktoren einer friedlichen Welt darstellt:
- Das Monopol auf die Anwendung von Gewalt liegt ausschließlich beim Staat und nicht bei Stammesführern oder Kriegsherren.
- Rechtsstaatlichkeit, d.h. die Bindung staatlichen Handelns an Recht und Gesetz, ist garantiert.
- Es bestehen wechselseitige Abhängigkeiten (Interdependenzen) und die Fähigkeit zur Affektkontrolle, d.h. spontane Gefühlsregungen zu kontrollieren.
- Die Möglichkeit der politischen und gesellschaftlichen Mitsprache ist im Sinne einer demokratischen Partizipation gegeben.
- Es herrscht soziale Gerechtigkeit durch Sicherung der Grundbedürfnisse.
- Das Gemeinwesen beruht auf einer Kultur des konstruktiven Umgangs mit Konflikten – die wohl schwierigste Komponente, wie wir auch in unserer täglichen Erfahrung erleben.
- Heutzutage spricht man von Friedens- und Konfliktforschung — mit Betonung auf letzterem —, der es darum geht, internationale Konflikte zu charakterisieren, deren Ursachen, Prävention, Verlauf und Lösung zu untersuchen. Normatives Ziel der Internationalen Friedens- und Konfliktforschung ist eine wirkungsvolle und dauerhafte Lösung der Konflikte und damit Frieden.
Diese soll schrittweise erfolgen:
- Von der Deeskalation z. B. Einstellung von Kampfhandlungen
- Einleitung der Kommunikation zwischen den Konfliktparteien, um den eigentlichen Interessensgegensatz herauszuarbeiten,
- mittels Mediation zur gemeinsamen Entwicklung einer Konfliktlösung zu kommen.
- Dann kann die Aussöhnung der Konfliktparteien folgen und damit der Abbau von Spaltungsfaktoren wie Vorurteile, Hass und Desinformation sowie die Bereitschaft für Vergebung.
Wie schwierig das in der Praxis umzusetzen ist, zeigt uns die aktuelle Lage in Europa und in den aktuellen Krisengebieten Nahost (mit Syrien, Libanon, Palästina – Israel, Irak, Iran, Jemen) sowie Afghanistan, Libyen, Sudan, Mali.
Macht und Herrschaft
Für das friedliche Zusammenleben der Menschen spielen die Phänomene Macht und Herrschaft eine entscheidende Rolle: Denn mit Macht und Herrschaft gehen Gewalt, Aggression und Furcht einher. Zunächst zur Frage: Wie entstehen Machtstrukturen? Was ist eigentlich in der menschlichen Natur, in der menschlichen Geschichte der Grund für sie?
Da ist einmal zu nennen, die biologische Theorie der Evolution — denn wir Menschen sind nun einmal aus der Entwicklung des Lebens der Tiere hervorgegangen, und die Geschichte menschlicher Gesellschaft. Machtstrukturen äußern sich in Herrschaft, Macht als Herrschaft von Menschen über Menschen. Carl Friedrich von Weizsäcker (1912–2007), Naturwissenschaftler, Philosoph und Friedensforscher nannte drei Strukturen, die erst in ihrem Zusammenwirken das Phänomen der Herrschaft begründen: Rangordnung, Funktion und Macht. (Theorie der Macht — Festrede 19.1.1977 beim Jahresempfang der Evangelischen Akademie in Tutzing — Hrsg. Bayer. Landeszentrale für PolBil. 1978) Rangordnung gibt es bereits in tierischen Gesellschaften, klassisches Beispiel ist die Hackordnung auf dem Hühnerhof: „Wer hackt wen?“ Vermutlich ist hier biologisches Erbe im Spiel; das ist aber schwer zu beweisen, auch wenn eine kleine überschaubare Gruppe, eine kleine Gesellschaft, genau dann so leicht funktioniert, wenn sich in ihr eine stabile Rangordnung hergestellt hat. Dann weiß jeder, wem er den Vortritt lassen muss, dann ist bei knappen Gütern klar, wer den ersten Zugriff zu ihnen hat und wer nicht. Weil es am mühelosesten funktioniert, stellen sich solche Rangordnungen, wie es scheint, sehr leicht ein und da sie sich leicht einstellen, wissen wir nicht, ob sie sich deshalb einstellen, weil das ein angeborenes Verhaltensschema ist oder schlicht Anwendung dessen, was wir „gesunden Menschenverstand“ nennen. Dass aber Rangordnungen das Zusammenleben leichter machen und der Verzicht auf Rangordnungen, die bewusste Gleichheit aller das Zusammenleben zu einer viel größeren Anstrengung macht, das wissen wir alle aus Erfahrung — dann muss man exzessiv Toleranz üben, was sonst nicht nötig wäre.
Neben der Rangordnung gibt es Verteilungen von Funktionen auch schon in tierischen Gesellschaften, aber unter uns Menschen in sehr viel höherem Grad: Verteilungen von Aufgaben, Arbeitsteilung oder etwa Ränge, die nicht an der Person hängen, sondern an dem, was wir das Amt nennen. Die Menschen haben im Laufe ihrer Geschichte immer wieder Anstrengungen unternommen, das Barbarische der bloßen Rangordnung zu überwinden unter anderem durch Zuweisung bestimmter Funktionen. Es ist im Grunde leicht einzusehen, warum vernünftiges Zusammenleben in Anerkennung von funktional sinnvollen Rangordnungen ziemlich mühelos sein sollte. In Wirklichkeit ist das aber nicht so. Es geht im menschlichen Zusammenleben nicht nur um die funktional sinnvollen Rangordnungen, sondern es geht immer wieder — spontan, elementar — um Machtverhältnisse. Die Interessen der eigenen Macht weiß jeder wahrzunehmen. Und Interessen der Macht der eigenen Gruppe weiß auch die Gruppe wahrzunehmen. Das sehen wir in den aktuellen politischen Entwicklungen und das kennt jeder vermutlich aus eigenen Erfahrungen — z.B. auch aus dem Berufsleben.
Woher kommt dieser scheinbar irrationale Drang nach Macht, nach Selbstbehauptung? Es ist eine verbreitete Meinung, der Machttrieb sei ein irrationaler Affekt; deshalb ein paar Erläuterungen zum Begriff Affekte: Was sind Affekte, gibt es eine Vernunft der Affekte? Sie sind zunächst tierisches Erbe, fertig zu werden mit den Problemen der Umwelt, der Feinde, der Beute, der Nahrung.
Aggression und Furcht sind wesentliche Affekte. In diesem Zusammenhang werden Affekte zu Unrecht als Gegner der Vernunft angesehen. Carl Friedrich von Weizsäcker: „Wenn die Fähigkeit zu aggressivem Verhalten gegen seinesgleichen, gegen den Artgenossen, gegen den Konkurrenten in der eigenen Gruppe etwas ist, was die Vitalität der Gruppe, die Überlebensfähigkeit der Gruppe und der Art steigert, dann kann die Aggression nicht der Grund sein für ein selbstzerstörendes Verhalten, es sei denn, sie sei aus dem Gleichgewicht der instinktiven oder vernünftigen Regelungen herausgefallen. … Lebewesen, die sich ständig in unvernünftiger Aggression auslebten, würden heute nicht mehr vorhanden sein. Und dass diejenigen, die heute noch vorhanden sind, Aggression haben, spricht dafür, dass Aggression einen Sinn hat.“ Und weiter: „… noch offensichtlicher nützlich (und) vernünftig ist … Furcht, das ist affektive Wahrnehmung von Gefahren und alles Leben ist ständig von Gefahren bedroht. … Wer etwas Evolutionstheorie betreibt, kann sogar sagen, dass der Hauptmotor der Evolution selbst in den Gefahren liegt, welche durch die Evolution für die entwickelten Lebewesen überhaupt erst erzeugt worden sind. … Affekte als solche sind … nicht der Grund dessen, was wir als irrationales Verhalten betrachten, sondern die Irrationalität ist in solchen Fällen eine Entkoppelung der Affekte von ihrem eigentlichen Sinn.“
Was bedeutet nun in diesem Zusammenhang Macht? „Macht scheint mir ein Humanum“, so Weizsäcker, also ein Merkmal des Menschen. Macht gibt es bei Tieren eigentlich nicht, wenn ich mit Macht die Möglichkeit meine, unbegrenzt Mittel zu akkumulieren, um Gefahren zu begegnen, und die Tendenz, das auch zu tun. Die affektive Wahrnehmung einer Gefahr kann dazu führen, dass man wegläuft, oder, wenn man der Gefahr nicht mehr entgehen kann, dass man dem Gegner ins Gesicht springt. Beide Verhaltensweisen gibt es bei Tieren, gibt es im direkten und übertragenen Sinn auch beim Menschen. Beides ist Furcht.
Macht hingegen beruht auf der spezifisch menschlichen Fähigkeit, Mittel anzusammeln gegen die Gefahren, mit denen man zu tun hat: Nahrungsmittel gegen Hunger, Waffen gegen Feinde und Raubtiere, Schutzmauern und was es sonst geben mag.
Diese Akkumulation von Machtmitteln, ermöglicht durch die dem Menschen eigentümliche Denk-, Vorstellungs- und Traditionsfähigkeit, verbunden mit der technischen Entwicklung, hat den Menschen zum Herrn der Tiere gemacht (was evolutionsgeschichtlich noch nicht so lange her ist). Wir sind zu Herren der Tiere geworden, wir sind auch zu Herren der Menschen geworden.
Der Mensch, der Macht akkumulieren kann, kann damit andere Menschen beherrschen und nun nicht in der relativ naiven Form der Hackordnung, die sich ja dann, wenn der eine alt wird und der andere nachrückt, von selbst wieder verwandelt, sondern in der Form, dass Verhältnisse geschaffen werden, die eine Gruppe von Menschen, möglicherweise eine ganze Klasse, eine ganze Ethnie, für unabsehbare Zeit zu der unterlegenen stempeln.
Unter diesen, die den Zugang zu den Mitteln der Macht haben, gibt es dann die internen Machtkämpfe, die so ausgefochten werden, dass sie das System als solches aber nicht zerstören; und betrachten wir das menschliche Leben und die Geschichte, so finden wir sie durchzogen von diesen Machtkämpfen.
Gegen Hunger kann man Nahrungsmittel ansammeln, indem man sie durch Jagd, durch Ackerbau erwirbt. Mehr anzusammeln, als man aufessen kann, ist aber sinnlos. Gegen natürliche Feinde kann man Waffen ansammeln, aber mehr zu haben als aufgrund der möglichen Bedrohung ratsam, ist sinnlos. Es gibt aber eine Bedrohung, die selbst unbegrenzt ist, das ist die Bedrohung durch den anderen Menschen. Wenn zwei Stämme, zwei Städte, zwei Nationen gegeneinander im Wettbewerb stehen und sich die eine von ihnen bedroht fühlt, so kann diese immer weiter Mittel anhäufen, wodurch die andere immer mehr bedroht wird. Das Problem, hier ein Machtgleichgewicht herzustellen, ist jedoch prinzipiell unlösbar, so Weizsäcker, weil die Anhäufung von Macht auf der einen Seite stets die Anhäufung von Macht auf der anderen Seite zur Folge haben kann, und bei hinreichendem Misstrauen, bei hinreichender Ansammlung von Furcht tatsächlich zur Folge hat.
Diese Anhäufung ist kein zwingendes Naturgesetz, sie kann durch verständiges Denken, sie kann durch Vernunft beendet werden oder gar nicht in Gang kommen, aber ist sie einmal eingetreten, so gibt es keinen immanenten Grund, warum sie aufhören sollte.
Den Frieden dadurch zu bewahren, dass man den Gegner, vor dem man sich fürchtet, vor kriegerischen Handlungen abschreckt, führt im Allgemeinen unter einer Mehrheit von Mächten zu einem System von unauflösbaren Gleichungen. Denn zwangsläufig gesichert kann ich mich nur dann fühlen, wenn ich mich der Gesamtheit meiner möglichen Gegner überlegen weiß. Der Rüstungswettlauf ist eine Grundfigur der menschlichen Geschichte seit wenigstens 6000 Jahren und er kommt in erster Linie nicht zustande, weil da Leute sind, die die Welt erobern wollen, die an nichts anderem Vergnügen haben als an immer mehr Waffen, sondern er kommt zustande durch die verständige Politik der Bewahrer, der „Konservativen“, die nichts anderes wollen als ihre eigene Existenz schützen — d.h. Selbstbehauptungswillen. Es ist verständig so zu handeln, dass man selbst der am wenigsten Bedrohte ist. „Si vis pacem, para bellum“ (Willst du den Frieden, bereite den Krieg vor — lateinisches Sprichwort von Cicero) ist ein klassischer Satz verständiger Politik.
In Wirklichkeit jedoch sind die Machtverhältnisse niemals so stabilisiert worden, dass dann nicht nach einiger Zeit die Probe gemacht worden wäre, wer nun wirklich der stärkere ist.
Wie und wann sind Macht und Herrschaft legitim?
Das Fehderecht, das bis zum Mittelalter vorherrschte, wonach der Einzelne gegen den Einzelnen kämpfen konnte — Stichwort: Duelle, Faustrecht, Selbstjustiz —, wurde abgeschafft und durch das Prinzip rechtstaatlicher Streitentscheidung ersetzt.
Die theoretische Begründung für das Macht- und Gewaltmonopol des Staates lieferte Thomas Hobbes mit dem „Leviathan“ im 17. Jahrhundert im Zusammenhang mit dem Englischen Bürgerkrieg. „Der Mensch ist des Menschen Wolf“ (homo homini lupus; Plautus) und „Krieg aller gegen alle“ (bellum omnium contra omnes) wurden durch den „Gesellschaftsvertrag“ ersetzt – alle Macht geht vom Staat aus.
Das ist auch heute noch Grundlage unserer Verfassung, wenn auch der „Leviathan“ die absolute Herrschaft des Staates voraussetzt, wir aber heute im westlichen Verständnis der Herrschaftsausübung durch den Staat die Gewaltenteilung und die Ausbalancierung der Gewalten (Balance of Power) sowie den gesetzlich garantierten Machtwechsel als Grundlage sehen. Dies betrachten wir als eine vernünftige Lösung, wir betrachten also Politik auch als Auseinandersetzung zwischen Vernunft und Macht.
In der Tradition unserer Philosophie bis heute hat das Wort Vernunft sehr eng zu tun mit Verstand, mit Begrifflichkeit und mit der Fähigkeit zum Dialog. Vernünftig sein bedeutet fähig zu sein, Rechenschaft zu geben von dem, was man denkt und tut, Rechenschaft im Dialog also: demjenigen, der mich fragt, antworten zu können. „Die Ungleichungen eines Mächtegleichgewichts sind unauflösbar“, so von Weizsäcker. Macht stabilisiert sich niemals von selbst. Das bedeutet zugleich, dass das Streben nach Macht, das eine so natürliche Sache ist, notwendigerweise tragisch ist.
Die Überwindung dieser Tragik durch Vernunft (soweit es dem Menschen überhaupt gegeben ist, Tragik zu überwinden) das ist die vernünftige Ethik, bei Kant der Kategorische Imperativ: „Handle so, dass die Maxime Deines Handelns jederzeit zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung werden könne!“ Das Prinzip des kategorischen Imperativs ist also das Prinzip, den Menschen als vernünftig zu behandeln. Das bedeutet nun überhaupt nicht die Naivität zu meinen, jemand, der im Prinzip der Vernunft fähig ist, handle in Wirklichkeit auch vernünftig. Noch immer ist die Grunderfahrung der Tragik der Politik, der Tragik der Machtverhältnisse, dass der sinnvolle kategorische Imperativ, die sinnvolle Forderung des Behandelns des Mitmenschen als vernünftig, immer von neuem scheitert, und wenn wir uns fragen, woran es scheitert und wenn wir aufrichtig sind (sein können), so werden wir immer sagen müssen: auch an uns selbst ist es gescheitert. Natürlich ist es sehr bequem und ist auch das Übliche und eine Grundfigur des politischen Kampfes, dass man sagt, es sei der Gegner, der daran schuld sei, aber der eigentliche Punkt, um den es hier geht, ist, dass ich es bin.
Der freie Wille, die Fähigkeit zu wollen und zu entscheiden, ist eine definierende Fähigkeit des menschlichen Ich. Man könnte zunächst sagen, der freie Wille ist Knecht der Affekte. Das sagt die Stoische Ethik; dann unterscheidet man Vernunft und die Affekte, und derjenige ist der Weise, der seine Affekte am Zügel hat. Aber nicht die Affekte sind diejenigen, die uns verknechten, sondern das Ich, ich selbst verknechte mich, eben das bewusste, wollende Ich. Das Ich selbst ist machtförmig, so von Weizsäcker. Das Ich selbst ist so, dass es zu entscheiden verlangt und dieses Verlangen nicht aufgibt, auch nicht gegenüber dem kategorischen Imperativ. Was das Ich als seine Freiheit versteht, ist die Unfreiheit gegenüber den Affekten — tun und lassen zu können, was ich will. Die Fähigkeit, ethisch vernünftig nach dem kategorischen Imperativ zu handeln, so folgert von Weizsäcker, ist bedingt durch die Fähigkeit, den Mitmenschen zu lieben, und dies bedeutet die Überwindung dessen, was er das machtförmige Ich genannt hat.
Der Philosoph Hwans Jonas (1903–1993) hat das 1979 in seinem Werk „Das Prinzip Verantwortung“ so formuliert: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“
(Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt am Main 1979, S. 36) Jonas entwickelt in seiner Schrift eine „Ethik für die technologische Zivilisation“. Diese besteht in der Vermeidung unabschätzbarer Risiken, um den Bestand der Menschheit als Ganzes nicht zu gefährden, sowie der Anerkennung der Eigenrechte der ganzen Natur, für die dem Menschen aufgrund seiner Handlungsmöglichkeiten die Verantwortung zukommt. Was haben diese Ausführungen mit dem Thema Frieden zu tun? Ich meine sehr viel, denn sie beschreiben den Handlungsrahmen möglichen friedlichen Miteinanders.
Friedensbewegung
Das Ziel friedlichen Zusammenlebens schrieb und schreibt sich die „Friedensbewegung“ auf die Fahnen, die Kriege, Kriegsformen und Kriegsrüstung aktiv und organisatorisch verhindern und den „Krieg als Mittel der Politik“ (s. von Clausewitz: „Vom Kriege“) langfristig ausschließen wollen. Gängige Parolen waren und sind: „Frieden schaffen ohne Waffen“ — „Schwerter zu Pflugscharen“ — „Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“ — „Ohne Soldaten kein Krieg“ — „Der militärisch-industrielle Komplex lenkt alles“.
Dies klingt zwar edelmütig, es sind aber naive Schlagwörter, mit denen man Kinder und Jugendliche begeistern kann; sie bieten keine Lösungen, eher Wunschdenken und Illusionen, die die Gewaltbereitschaft des Menschen außer Acht lassen — Mord und Totschlag sind ein reales tägliches Phänomen, nicht nur in den zahllosen Krimi-Serien im Fernsehen.
Die täglichen Nachrichten aktuell aus der Ukraine, die zurzeit die Bürgerkriege in Nahost, in Nord- und Zentralafrika überdecken, die Selbstmordanschläge auch in Europa, lassen sich nicht verhindern z.B. mit Forderungen nach Verbot von Waffen- und Rüstungsexporten, das ist schlicht naiv, unrealistisch und lenkt vom eigentlichen Problem der Gewaltbereitschaft ab. Ein „militärisch-industrieller Komplex“ steuere Politik und Wirtschaft, so eine weitere Behauptung, klingt schon sehr nach Verschwörungstheorie, mit der wir Freimaurer ja auch gelegentlich konfrontiert sind. Ich halte es für zielführender, die verfassungsmäßigen Organe eines Rechtsstaates für innere (Polizei) und äußere (Streitkräfte) Sicherheit in die Diskussion über Friedenssicherung einzubeziehen — das ist ihr verfassungsmäßiger Auftrag — als sie reflexhaft als Gewalttäter, Kriegstreiber und Feindbild zu behandeln.
Wer ist aggressiver, der Soldat im demokratisch verfassten Staat, der gemäß dem Mandat des Parlaments in den Einsatz geschickt wird, oder der, der als selbsternannter Pazifist ihn lautstark als Mörder beschimpft? Der Soldat hat das geringste Interesse am kriegerischen Waffeneinsatz, weil das für ihn das größte Lebensrisiko bedeutet, weil er nicht weglaufen darf. Der Soldat der Bundeswehr unterliegt übrigens per Gesetz nicht Befehl und Gehorsam, wenn er gesetzeswidrige, verfassungswidrige oder völkerrechtswidrige Befehle ausführen soll. (§ 11 Soldatengesetz) Überhaupt führt das Fach „Internationale Politik und Sicherheitspolitik“ an unseren Universitäten und wissenschaftlichen Instituten, besonders in den öffentlichen Medien in Deutschland eher ein Schattendasein im Vergleich zu Frankreich, Großbritannien, USA, wohl wegen mit unserer Geschichte zusammenhängenden Berührungsängsten mit der Thematik des Selbstbehauptungswillens eines Staates.
Peter Sloterdijk beschreibt das Dilemma in seiner „Kritik der zynischen Vernunft“ im Jahre 1983 folgendermaßen: „Alle Kriege sind, von der Wurzel her verstanden, Konsequenzen des Selbsterhaltungsprinzips. In der Konkurrenz der politischen Gruppen hat der Krieg seit je als ein Mittel gegolten, Bestand, Identität und Lebensform einer gegebenen Gesellschaft gegen den Druck des Rivalen durchzusetzen und zu verteidigen. Realisten rechnen seit Urzeiten mit einem Naturrecht auf Selbsterhaltung der einzelnen und auf kriegerische Notwehr der angegriffenen Gruppe. Die Moral, mit der man die Aufhebung der Moral im Krieg legitimiert, ist die der Selbsterhaltung. Wer sich für sein eigenes Leben und dessen soziale Formen schlägt, steht nach dem Empfinden aller bisherigen realistischen Mentalitäten jenseits der Friedensethik. Bei der Bedrohung eigener Identität wird das Verbot des Tötens außer Kraft gesetzt.“ (Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, 1983, 21. Auflage 2018, S. 254)
Mir ist jedoch auch klar, dass es für Friedensaktivisten schwierig ist, sich in konkrete Dialoge einzulassen, bei denen man Gefahr läuft, seine vielleicht auch ideologischen Überzeugungen und Wohlfühlargumente in Frage stellen zu müssen.
Bezeichnend dafür ist es auch, dass zur Lösung der aktuellen katastrophalen Lage in der Ukraine, Nahost und in Nord- und Zentralafrika heutzutage von der Friedensbewegung nichts Substanzielles zu hören ist, außer die m.E. naive Forderung, auf Rüstungsexporte zu verzichten. Die permanente Empörung ist damals wie heute das bevorzugte Mittel. Vorgetragen wird sie meist mit einem hochmoralischen Gestus, der nur zur Folge hat: neue Feindbilder zu schaffen.
Abschließend zur Frage: Was können wir Freimaurer persönlich zum friedlichen Miteinander, zum Frieden in der Welt beitragen?
Dazu ein Zitat von Konfuzius: „Der Mensch hat dreierlei Wege klug zu handeln: erstens durch Nachdenken, das ist der Edelste, zweitens durch Nachahmen, das ist der Einfachste, und drittens durch Erfahrung, das ist der Bitterste.“
Erstens klug zu handeln durch Nachdenken, d.h. nach Kant „sapere aude“ — wage es, selbst zu denken. Der Gebrauch der Vernunft ist, in Anlehnung an Kant — „Vom ewigen Frieden“ — die Voraussetzung für eine friedfertige Staatsform, als die heute nach westlicher Auffassung die Demokratie gilt; ohne Vernunftgebrauch degeneriert diese nach Platon („Politeia“ und sein Spätwerk „Nomoi“ III. Buch) im Gegensatz zur Herrschaft der Besten („Aristokratie“) zur Herrschaft der zügellosen Freiheit („Demokratie“), die er neben der Tyrannei als schlechteste Staatsform bezeichnet; diese wird durch den Einfluss der Demagogen gelenkt durch grobe Vereinfachungen, Schwarz-Weiß-Argumentation, Schüren von Vorurteilen, Lüge, Hetze, Appell an Instinkte und Emotionen, durch Verschwörungstheorien, Halbwahrheiten, unbelegte Behauptungen, aus dem Zusammenhang gerissene Teilinformationen.
Hier stoßen mir heutzutage die Kommentare z.B. in den sog. Sozialen Medien auf. Man spricht von der „postfaktischen Zeit“, wenn die Bewertung von Fakten, auf Vernunft gegründet, von Gefühlen und vorurteilsbehafteten Meinungen verdrängt werden.
Angst vor Veränderung und Dummheit — Dummheit im Sinne von fehlendem Vernunftgebrauch — gewinnen dann. Dies führt mich nebenbei zu der These: Je weniger die Vernunft herrscht, desto autoritärer muss die Staatsform sein, um die Stabilität der Gesellschaft und damit ihr friedliches Zusammenleben zu erhalten.
Der deutsch-britische Soziologe Ralph Dahrendorf (1929–2009) stellte in seinem Werk „Versuchungen der Unfreiheit“ (2006, S. 79) die These auf, dass dies auf vier Säulen beruhe: den Fähigkeiten, unabhängiges Denken strikt zu verfolgen und die Widersprüche und Konflikte der Gesellschaft auszuhalten, auf einer akribischen engagierten Beobachtungsweise sowie auf der Anerkennung der Vernunft als Grundlage jeder Theorie und Praxis. Zweitens klug zu handeln durch Nachahmen als einfachster Weg: Dies setzt ein hohes Maß an Vertrauen in die Vorbilder für kluges Handeln voraus, in heutiger Zeit ein schwer realisierbarer Weg, weil es kaum übereinstimmende Auffassungen zu wirklich anerkannten Vorbildern gibt — das in Befragungen regelmäßig ermittelte sehr geringe Vertrauen in die Politiker bestätigt dies.
Es bleibt der dritte Weg: Klug zu handeln durch Erfahrung, der bitterste Weg, auf dem wir uns heute überwiegend befinden, wenn wir die Weltlage betrachten.
Es gibt keine Patentlösung zum friedlichen Miteinander, das schaffen keine Friedensdemos, keine Parolen, keine Forderungen nach Abschaffung aller Waffen und Armeen, weil diese Forderungen utopisch sind, solange es Konflikte gibt, deren Lösung mit Vernunftgründen nicht möglich ist, weil Affekte wie Aggression, Wut, Hass, Furcht, Angst, Stolz das Handeln beeinflussen. Auch die Vorstellung einer gemeinsamen Weltregierung schafft keine Abhilfe. Denn auch diese würde von individuellen Menschen gebildet. Wer soll diese auswählen?
Ein zentralistischer Weltstaat ist eine Utopie und wäre selbst dann von geringerer demokratischer Qualität, wenn die Weltbürgerschaft in regelmäßigen Abständen über die Zusammensetzung der Weltregierung entscheiden könnte.
Die einzelstaatlichen Demokratien repräsentieren dagegen normative Ordnungen, die in historischen Prozessen gewachsen sind, damit Legitimation und Identität stiften und Kooperation ermöglichen.
Die UNO mit 193 Mitgliedstaaten oder eine regionale Organisation wie die OSZE mit 57 Mitgliedstaaten in Europa, Zentralasien und Nordamerika sind auf die Einmütigkeit der Mitglieder angewiesen und verfügen über keine eigenen Machtmittel zur Durchsetzung ihrer Beschlüsse.
Sehen wir uns die EU an mit aktuell 27 Mitgliedstaaten nach dem Austritt Großbritanniens, die eigentlich trotz aller Unterschiedlichkeiten gemeinsame historische, religiöse, politische, wissenschaftliche und kulturelle Bindungen und Erfahrungen aufweist und seit 75 Jahren in Frieden ohne kriegerische Auseinandersetzungen lebt. Natürlich gibt es kein europäisches Volk, sondern Belgier und Holländer, Franzosen und Briten, Deutsche und Ungarn, Griechen, Italiener, Spanier, Polen und Tschechen usw. Aber dass wir alle zusammen auch Europäer sind, weil wir spezielle Gemeinsamkeiten besitzen, die über Jahrhunderte hinweg im Miteinander und oft auch im Gegeneinander gewachsen sind, das kann niemand ernsthaft bestreiten. Und trotzdem ist ein gemeinsames Vorgehen in den aktuellen Krisensituationen sehr schwierig.
Die Erfahrung zeigt, je größer das staatliche Gebilde, desto größer ist auch die Distanz zwischen dem, was die Bürger in ihrem Alltagsleben beschäftigt, zwischen ihren Erfahrungen, Wertungen und Interessen einerseits und den politischen Entscheidungsprozessen der Zentrale andererseits. Die EU-Kommission in Brüssel ist fern im Vergleich zum Bürgermeister oder Landrat der Kommune, in der man lebt. Dem Bürgermeister oder Landrat kann man einen Brief schreiben mit der berechtigten Hoffnung, nach einiger Zeit auch eine Antwort zu bekommen; der EU-Kommission einen Brief zu schreiben, erscheint sinnlos. Das Problem ist weniger eine räumliche Distanz, sondern die Partizipationsmöglichkeit der einzelnen Bürger.
Ein kluger Beobachter wie der eben zitierte liberale Soziologe Ralf Dahrendorf deckte das grundlegende Problem schon Anfang der 2000-er Jahre auf. Er erkannte, dass mehr Globalisierung immer auch weniger Demokratie bedeutet. Denn auf globaler Ebene gibt es keine Möglichkeit, die Betroffenen in die Entscheidungen einzubeziehen. Demokratie ist auf Bürgernähe angewiesen. Leidtragende der Globalisierung ist die sesshafte, ortsgebundene Bevölkerung. Diese verliert immer mehr Rechte an Instanzen, die nicht der demokratischen Kontrolle unterliegen.
Was uns persönlich bleibt, ist letztlich die Besinnung auf uns selbst, auf das „machtförmige Ich“, wie es Carl Friedrich von Weizsäcker bezeichnete, das es zu überwinden gilt durch die Liebe zum Mitmenschen, durch Brüderlichkeit, wie wir Freimaurer sie nennen.
So schließe ich in diesem Sinne mit einem Zitat von Hermann Hesse aus einem Brief an Salome Wilhelm im Feb. 1950 (in: Hermann Hesse: Eigensinn macht Spaß. Insel-Taschenbuch 2856, 1. Aufl. 2002, S. 164) „Es scheint wirklich dem Menschen nur die eine Hoffnung gegeben, zwar nicht die Welt und die anderen, aber wenigstens sich selber einigermaßen ändern und bessern zu können, und auf denen, die das tun, beruht im Geheimen das Heil der Welt.“
Wir nennen das die Arbeit am eigenen rauen Stein.
Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag beim „Chiemgauer Dialog der Freimaurer“ in Bad Reichenhall am 9. Oktober 2016. Der Text wurde im März 2022 aus aktuellem Anlass überarbeitet.
Dieser Beitrag stammt aus dem Heft 3-2022 der HUMANITÄT, dem deutschen Freimaurer-Magazin. Das Heft kann bei der Kanzlei abonniert werden.