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Hochmitternacht und also gerechte Zeit

© Steffen Schmitz/Wikimedia Commons/CC BY-SA 4.0

Von Heinz Sichrovsky

Wie nahezu alles im (nicht nur wissenschaftlichen) Leben erlaubt auch das hier zu bearbeitende Thema eine optimistische und eine pessimistische Betrachtung.

Pessimistisch gesehen, existiert die freimaurerische Literaturforschung nur in Rudimenten, verfasst überwiegend von entweder literaturwissenschaftlichen oder freimaurerischen Amateuren. Während etwa zum Bruder Mozart ganze Bibliotheken äußerst unterschiedlicher (auch hoher) Qualität verfasst wurden, ist die Literatur gar nicht oder schütter – und häufig laienhaft – bearbeitet.

In der optimistischen Variante eröffnet sich dem Qualifizierten damit allerdings ein faszinierendes, weites und offenes Forschungsfeld. Was da zur Entdeckung noch alles anstünde, kann an Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ nachverfolgt werden, einem Königswerk der Literaturgeschichte, von dem ich als Germanist der Überzeugung war, es wäre seit 1809 in Tausenden Aufsätzen, Habilitationsschriften, Dissertationen und Magisterarbeiten bis zum letzten Beistrich analysiert worden. Dann habe ich „Die Wahlverwandtschaften“ erstmals seit meiner Universitätszeit wieder gelesen, jetzt mit dem Blick und dem Wissen des Freimaurers. Und da fand ich seitenlange Ritualzitate, teils von großem Ernst, teils voll gutgelaunter Ironie. Ein brünftiger Graf ermahnt sich mit dem Hinweis: „Da es Hochmitternacht und also gerechte Zeit ist“, zum Vollzug bei seiner Konkubine. Der Baron Eduard klopft zweimal leise und einmal laut an die Tür seiner Frau, mit der er gleich einen Sohn zeugen wird, obwohl er eine ganz andere Person im Sinn hat. Ein Geselle skizziert in einer Gleichenrede das ganze maurerische Leben. Goethe war alles andere als ein leidenschaftlicher Freimaurer, aber als er dieses Opus magnum schrieb, arbeitete er gerade im Auftrag des Großherzogs von Weimar an der Wiederbelebung der lang stillgelegten Loge „Anna Amalia“, in der sich die Elite des Weimarer Kultur- und Gesellschaftslebens abschloss, an ihrer Spitze Goethe, Herder, Wieland und der Großherzog selbst. Eines fügt sich bruchlos zum anderen, und meine Arbeit für das Jahrbuch der Forschungsloge Quatuor Coronati war ein persönlicher Glücksfall.

Goethes leidenschaftslose Freimaurerei

Dabei ist Goethe einschlägig noch vergleichsweise gut aufgearbeitet, denn es gibt zu seiner maurerischen Biografie zwei schmale Logenpublikationen, zum Teil noch von Augenzeugen mitverfasst. Aber sie reihen nur historische Fakten aneinander und sind in dieser Hinsicht tatsächlich unschätzbares Quellenmaterial, zumal in der Nazi-Zeit viele Archivalien verschleppt und zerstört wurden. Zur Textanalyse, also zum Aufspüren von Subtexten, Ritualzitaten und Chiffren im Werk, waren die Verfasser allerdings weder bereit noch in der Lage. Hier wartet auf den Fachmann noch ein riesiges Forschungsfeld.

Tatsächlich bietet sich die Gelegenheit für neue Erkenntnisse, wann immer man sich der Materie nähert: vom einigermaßen erforschten Lessing über den kaum erforschten Matthias Claudius bis zum unerforschten Wilhelm Müller, dessen Gedichtzyklen „Winterreise“ und „Die schöne Müllerin“ mit Schubert in die Unsterblichkeit abgehoben haben. Von den fast vergessenen deutschen und englischen Homer-Übersetzern des 18. und 19. Jahrhunderts bis Rudyard Kipling, der ein freimaurerisches Œuvre von konkurrenzloser Farbenpracht und Vielstimmigkeit hinterlassen hat; von Puschkin, Stendhal und Arthur Conan Doyle bis Tucholsky und Wolfgang Bauer, der dem Bund ein Dreivierteljahr vor seinem Tod beigetreten ist und dem im Grazer Bruderkreis das Sterben ein wenig leichter wurde.

Freimaurer neigen zur Überinterpretation

Zum Freimaurer Puschkin gibt es eine 1997 an der Münchner Universität approbierte Magisterarbeit von Markus Wolf, die in ihrer Seriosität eine Ausnahme darstellt. Puschkin wurde in der Verbannung, die er wegen satirischer Beleidigung der Obrigkeit antreten musste, kurz vor dem Verbot des Bundes Freimaurer. Er hat das Verlorene in einer Vielzahl verschlüsselter Botschaften in seinem Werk weitergetragen. Die Qualität dieser Arbeit, die erkennbar von einem freimaurerischen Betreuer begleitet war, ist allerdings die Ausnahme. Ansonsten gibt es fast nur Gegenbeispiele, die an stets demselben (für Amateurforscher diesseits und jenseits der Bruderkette typischen) Übel kranken: dem der Überinterpretation. Bei den Brüdern geht in der Begeisterung des Forschens jedes Auftreten der Zahlen drei und sieben, ja sogar der Tod als Indiz für freimaurerische Absichten durch, so, als wären diese Zahlen (und der Tod) masonische Erfindungen. Profane Wissenschaftler wiederum deuten als Standardfehler jede aufklärerische, gesellschaftsverändernde oder revolutionäre Absicht als freimaurerisch, weil sie nicht wissen, dass es auch reaktionär christliche und dubiose esoterische Systeme gibt.

Zu Kipling, der Königswerke der Freimaurerliteratur geschrieben hat, wurde von der englischen Forschungsloge beste Basisarbeit geleistet, aber die Brüder sind keine Literaturwissenschaftler. Sie haben zwar Kiplings maurerische Biografie, die in den indischen Kolonien beginnt, erstklassig aufgearbeitet, historisch fehlt da nichts. Aber interpretatorisch alles – nämlich die Textanalyse, obwohl die „Dschungelbücher“, „Kim“, „Der Mann, der König sein wollte“, die Kurzgeschichten und vor allem die Gedichte ein wahrer Steinbruch an freimaurerischer Symbolik sind.

Wenig Erhellendes von literarischen Schwergewichten

Seltsamerweise ist Kipling als Freimaurer-Autor in der masonischen Großmacht England beinahe ein Einzelfall. Robert Burns und Walter Scott haben keine nennenswerte masonische Literatur geschaffen, und Arthur Conan Doyle, der Erfinder von Sherlock Holmes, war ein krauser Spiritist, der sich mit dem Bund aggressiv überworfen und ihn im Roman „Tal der Angst“ als mafiöse Verbrecherbande denunziert hat. Noch schütterer ist die Population in der masonischen Großmacht Amerika, trotz der gewichtigen Namen John Steinbeck und Mark Twain. Beide haben den Bund noch vor ihren ersten Erfolgen wieder verlassen, und in ihren Werken finden sich keine Spuren ihrer Zugehörigkeit. Ebenso die Großmacht Frankreich, in der neben Stendhal nur noch Bruder Voltaire die literarische Oberliga repräsentiert. Er hat seinen Beitritt zum Bund allerdings keine zwei Monate überlebt.

In Deutschland wird es nach der Klassik, also mit dem Ende der Aufklärung in der Romantik, ganz schütter. Heinrich Heine war eine bloße Karteileiche in Paris, Kurt Tucholsky wurde vom Bund vor seinem einsamen Selbstmord in der Emigration beschämend im Stich gelassen und sogar mit Ausschluss wegen Nichtentrichtung der Mitgliedsbeiträge bedroht.

Masonische Spuren in der italienischen Literatur

Dafür hat die Freimaurerei gewaltige Spuren in der italienischen Literaturgeschichte hinterlassen, von Giacomo Casanova bis Gabriele D’Annunzio, Giosuè Carducci (der 1906 den Nobelpreis entgegennahm) und Giovanni Pascoli. Das hat vielfach damit zu tun, dass der Bund in den Tagen des Risorgimento, des italienischen Befreiungskampfes, eine hochpolitische Organisation mit dem Freiheitskämpfer Giuseppe Garibaldi als Großmeister war. Aber keiner der genannten literarischen Giganten ist masonisch auch nur annähernd tauglich erforscht. Insgesamt ist die Forschungslage in Italien miserabel. Der Tiefpunkt sind Einlassungen über die angebliche Zugehörigkeit Giacomo Puccinis, in denen zwar keinerlei Beitrittsdokumente präsentiert, aber dafür die drei karikierten Minister in Turandot wegen ihrer Dreizahl als Indizien herangezogen werden.

Zu forschen und zu erkunden gibt es jedenfalls noch viel. Nikos Kazantzakis, der größte griechische Erzähler der Neuzeit, den man von „Sorbas“ und „Die letzte Versuchung Christi“ kennt, hat ein Werk voller Chiffren und Konnotationen hinterlassen. Auch eine moderne Odyssee, die ein einziger Weg vom Dunkel ins Licht ist und aus 33.333 Versen besteht, so durchdrungen war der Bruder Kazantzakis vom Ritual. Er stand auf dem päpstlichen Index und ihm wurde von der orthodoxen Kirche das christliche Begräbnis verweigert. Vom Goethe-Zeitgenossen und Freimaurer Friedrich Ludwig Zacharias Werner gibt es ein zweiteiliges Templer-Drama namens „Die Söhne des Thals“, das den Gründermythos des Schottischen Hochgradritus thematisiert und auf einen in diesem System bewanderten Literaturwissenschaftler wartet.

Ein Plädoyer für die Wissenschaft

Ich selbst habe im aktuellen Jahrbuch der Wiener Forschungsloge „Quatuor Coronati“ soeben zum flämischen Nationalepos „Thyl Ulenspiegel“ des Freimaurers Charles De Coster aus dem Jahr 1867 publiziert. Till Eulenspiegel ist da der Held im flämischen Freiheitskampf gegen die spanischen Habsburger. Zum Roman existieren sogar zwei einschlägige Analysen belgischer Literaturwissenschaftler. Beide sind allerdings verblüffend an der Oberfläche geblieben, und zumindest der zweite hatte vor allem ein Ziel, nämlich den ersten zu diskreditieren. Und das nicht einmal ganz zu Unrecht, denn der erste unterschiebt dem Werk permanent Konnotationen, wo sie nur mit Gewalt zu erblicken sind. Wenn zum Beispiel ein Fleischhauer mit der entsprechenden Geste andeutet, dass einer anderen Person die Kehle durchzuschneiden wäre, sollte man das nur sehr zögernd auf freimaurerische Symbolik zurückführen. So etwas führt leicht in die Parodie, jeder zweite Mafiosi im Film gäbe sich da als Freimaurer zu erkennen.

Dafür leugnet, um den wissenschaftlichen Konkurrenten möglichst umfassend zu marginalisieren, der zweite Interpret jeden maurerischen Zusammenhang. Auch dort, wo er unverkennbar ist. Denn der Ulenspiegel-Roman ist eine der „Zauberflöte“ relativ klar nachgebildete Initiationsgeschichte in drei Stufen. Am Ende wird Ulenspiegel beerdigt und steht als Mythos aus dem Grab auf, was für keinen puren Zufall gehalten werden kann, wenn der Verfasser Freimaurer ist. In einer Schlüsselpassage scheint der Schottische Ritus umfassend und im Detail zitiert, speziell die rot-schwarze Farbsymbolik und die Rache an Papst und König, die seitens der Schottenbrüder für die Verbrennung des Templers Jacques de Molay genommen wird. Der Schottische Ritus war im 19. Jahrhundert in Belgien führend und einflussreich, auch De Costers noch heute bestehende Loge „Les Vrais Amis de l‘Union et du Progrès Réunis“ („Die wahren Freunde der Union und des wiedervereinigten Fortschritts“) in Brüssel hat diesen Ritus zur Zeit seiner Mitgliedschaft bearbeitet. Das letzte, noch fehlende Mosaiksteinchen wäre der Nachweis, dass De Coster selbst im Schottischen Ritus gearbeitet hat. Mittlerweile ist der Vortrag vielfach gehalten und der Artikel publiziert, doch die erbetene Auskunft war in Brüssel nicht verfügbar. Deshalb beruht eine wesentliche Passage auf werkimmanenter Interpretation.

Das ist, falls es jemandem entgangen ist, ein Plädoyer für die Freiheit der Wissenschaft, die ohne Eiserne Vorhänge und Alleinvertretungsansprüche Systeme und Obödienzen überspannen muss, um leben und sich behaupten zu können.

Dieser Beitrag stammt aus dem Heft 1-2021 der HUMANITÄT, dem deutschen Freimaurer-Magazin. Das Heft kann bei der Kanzlei abonniert werden.

Der Beitrag erschien zuerst in „Eckstein – Zeitschrift für interobödienzellen Austausch & Kommunikation der unabhängigen Lehr- und Forschungsloge Perpetuum Mobile“, Nr. 85/2020, und ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, der aus Pandemie-Gründen auf der diesjährigen „AGORA“ in Österreich nicht gehalten werden konnte.