Die Aufforderung „audi, vide, tace“, also „höre, sieh und schweige“, ist nicht nur das Motto des Inlandssicherheitsdienstes der Tschechischen Republik, sondern auch einer der typischen Sinnsprüche, denen wir in der Freimaurerei häufiger begegnen. Er ist so prägend, dass er auf dem Gebäude der Vereinten Großloge von England (UGLE) verewigt wurde.
Ein Kommentar von René Schon
Zuhören und zusehen und anschließend über das Erfahrene schweigen sollen nicht nur die Lehrlinge, sondern auch die Gesellen und Meister. Gerade das dauerhafte Lernen und Erlernen ist ein wichtiges Kriterium in der Freimaurerei. Nur wer lernt und weiter an der Selbsterkenntnis arbeitet, wird auf dem Wege der Selbstveredelung vorwärts kommen. Gerade das Lernen und das Erfahren geschieht beim Menschen über dessen Sinne. In der Freimaurerei werden alle vorhandenen Sinne durchaus angesprochen. Die Aufnahme von Informationen durch das Sehen und das Hören ist aber wohl am bedeutendsten.
AUDI – HÖRE
Vom Zuhören in der Loge
Das Zuhören in der Loge ist ein wesentlicher Bestandteil der gemeinsamen brüderlichen (oder schwesterlichen) Abende. Nicht nur in den rituellen Arbeiten im Tempel ist der Bruder dazu aufgefordert, dem Redner zu lauschen und dessen Ideen und Gedanken zu reflektieren. Hier kann sich der Maurer gedanklich fallenlassen. In der Stille arbeitet er an den eigenen Überlegungen, die dabei entstehen.
Noch wichtiger ist das Zuhören bei den Vortragsabenden mit Aussprache. Hier gilt es, gewisse Regeln für den Gedankenaustausch (eine freimaurerische Art der Diskussion) zu befolgen. Der Redner hat das Wort exklusiv und wird nicht unterbrochen. Es werden die Meinungen der Brüder auch nicht gewertet. Somit ist jeder, der sich beteiligen möchte, aufgefordert seine Ideen und Gedanken zu dem vorangegangenen Vortrag beizusteuern. Die übrigen Teilnehmer sind in der Position des Zuhörers. Man lässt also das Wort und die Meinung des Mitbruders wertfrei zu und bekundet durch das Zuhören auch Respekt demjenigen gegenüber. Es sollte keine Diskussion entstehen, sondern ein sogenanntes brüderliches Gespräch.
Zuhören als Tugend
Das „Sich-selbst-zurücknehmen“ und aktive Zuhören sollte in den Lehrjahren eines Freimaurers gefördert werden. Es ist eine Tugend, der wir häufig viel mehr Bedeutung beimessen sollten. Die Kontrolle über sich selbst, wenn man seinem Gegenüber am liebsten über den Mund fahren und nur allzu gerne widersprechen möchte, ist eine der schwierigsten Übungen des Maurers. Es ist menschlich, dass uns das sprichwörtlich „gegen den Strich geht“. Hat der Bruder dieses „Aushalten“, diese Kunst des „aktiven Zuhörens“ einmal für sich selbst erlernt, kann ihm diese Eigenschaft auch in anderen Lebenslagen von großem Nutzen sein. Denken wir einmal an Besprechungen oder Meetings innerhalb des beruflichen Umfeldes. Oder sogar an Treffen und Abstimmungen mit Kunden. Hier wird man schnell feststellen, dass Zuhören und sich selbst zurückzunehmen eine neue Qualität des Umgangs miteinander schafft. Aber auch in der kleinsten Gemeinschaft, der Partnerschaft oder Familie, ist es mehr als nützlich, sich auf sein Gegenüber einzulassen und ihm oder ihr besser zuzuhören.
Zuhören als Reise vom Lehrling zum Meister
Die Aufgabe des Lehrlings auf seinem Weg zum Meister ist das aktive Studium des eigenen Ich. Das „Erkenne dich selbst“ und die damit verbundene Arbeit am Rauen Stein ist seine Hauptaufgabe. Hierbei muss er als Geselle auch tatsächlich reisen und Erfahrungen sammeln, andere Logen besuchen, Eindrücke erfassen und zuhören. Auch das Gespräch mit seinem Bürgen, der ihn auf diesem Weg bis hierhin begleitet hat, ist vom Zuhören geprägt. Der Bürge sollte mit dem Lehrling oder Gesellen den jeweiligen Weg der Entwicklung besprechen, über Erfahrungen reflektieren und gegebenenfalls auch korrigierend eingreifen. Hierfür muss der Bruder ebenfalls zuhören und die Worte auf sich wirken lassen können. Der junge Maurer sollte sich zudem auf die Sinnbilder und Symbolik der Freimaurerei einlassen und den Worten der erklärenden Brüder mit der nötigen Aufmerksamkeit lauschen.
VIDE – SIEH
Das Online-Lexikon Wikipedia erklärt unter dem Stichwort „Visuelle Wahrnehmung“: „Als visuelle Wahrnehmung (von lateinisch videre = ‚sehen‘) bezeichnet man in der Physiologie die Aufnahme und Verarbeitung von visuellen Reizen, bei der über Auge und Gehirn eine Extraktion relevanter Informationen, Erkennung von Elementen und deren Interpretation durch Abgleich mit Erinnerungen stattfindet. Somit geht die visuelle Wahrnehmung weit über das reine Aufnehmen von Information hinaus“. Mit den Augen sehen ist sicherlich einer der wichtigsten Sinne, die wir Menschen haben. Das Sehen ist ein fester Bestandteil einer jeden rituellen Arbeit, da der Mensch über alle Sinne seine Wahrnehmung schärft. Uns werden Zeichen und Symbole vermittelt, deren tiefere Bedeutung wir oftmals erst im Laufe der Jahre erkennen und verstehen.
Sehen im Tempel
Interessenten an der Freimaurerei kennen sicher die historischen Bilder, auf denen eine Aufnahme in die Bruderschaft dargestellt ist, bei dem die Augen des Neophyten verbunden sind. Dies dient nicht nur der Sicherheit der Brüder, die unerkannt bleiben wollen und sich nur dem Bruderkreis offen zeigen, nein, die Augenbinde hat auch einen symbolischen Charakter im Tempelraum. Der neu aufzunehmende Bruder wird mit verbundenen Augen in den Tempelraum geführt. Dieses symbolische „Nicht-Sehen“ soll dem Suchenden vor Augen führen (eine schöne Metapher), dass er sich bisher nicht sehend durch die Welt bewegt hat und vielmehr auf der Suche nach dem Licht ist. Er sieht den Bruderkreis vor dem Abnehmen der Binde nicht und muss sich diesem blind anvertrauen. Nur jemand, der seinen Brüdern blind vertraut, der kann auch von der Gemeinschaft angenommen werden. Vertrauen aufeinander bildet eine der wichtigsten Grundlagen der modernen Freimaurerei.
Ziel dieser Handlung ist es, ihm das Augenlicht wiederzugeben und ihn sehend zu machen. Er soll seine neue Wirklichkeit erfassen und seine Augen und somit auch seinen Geist für neue Dinge öffnen.
Der Prozess des Sehens
Mit der Öffnung der Augen und dem Entfernen der Binde beginnt der Prozess des Sehens und Erfassens von Symbolen und Sinnbildern, wie sie in der Freimaurerei üblich sind. Er muss die Zeichen und vor allem die Bedeutung lernen, wie sie seit Jahrhunderten vermittelt und weitergegeben werden. Sie dienen der winkelgerechten Lebensführung und der Verbesserung der ethischen Haltung, des ethischen Handelns und der Arbeit am Rauen Stein.
Sehen im sozialen Umfeld
Am Ende des Rituals werden die Brüder konkret aufgefordert, niemals wegzusehen: „Wehret dem Unrecht, wo es sich zeigt, kehrt niemals der Not und dem Elend den Rücken, seid wachsam auf euch selbst“, heißt es da. Dies wiederum ist keine Aufforderung für die Arbeit im Tempel selbst. Sie zeigt, dass der Bruder Freimaurer im profanen Leben die Augen offenhalten und einschreiten sollte: Nicht wegsehen, wenn Unrecht geschieht, Gefahren erkennen, Zivilcourage zeigen. Die Augen wurden dem Bruder mit der Aufnahme symbolisch geöffnet, nun muss er lernen, sie auch im Alltag im maurerischen Sinne geöffnet zu halten.
TACE– SCHWEIGE
Ist es nicht in einer so geschwätzigen Zeit, Stichwort „Social media“, eine wirkliche Tugend, wenn ein Mensch einfach schweigen kann? Wenn man selbst die Ruhe sucht und diese zu schätzen lernt? Gerade diese Ruhe schafft Entspannung, die auch dazu dienen kann, die leeren Batterien wieder aufzutanken.
Schweigen bei den Freimaurern
Aber warum schweigen die Freimaurer denn vor Außenstehenden, sind sie sogar ein Geheimbund? Unsere Satzungen kann man nachlesen, die Logen sind eingetragene Vereine, nach Recht und Gesetz aufgebaut und strukturiert. Nichts daran ist geheim. Zudem betreiben die meisten Logen durchaus informative Webseiten oder Foren, um Interessenten und Suchenden eine geeignete Plattform zu bieten. Von einem Geheimbund zu sprechen, ist nun wirklich unangebracht. Was jedoch stimmt ist (und ich möchte hier gern ein Zitat von Dan Brown verwenden), dass Freimaurerei „ein Bund mit Geheimnissen“ ist.
Gerade unsere geheimen Zeichen und Worte grenzen uns von den Außenstehenden ab und lassen eine Bruderschaft entstehen, in der alle Mitglieder auf dieselben Werte und Ideale bauen. Wir schweigen nicht, um etwas zu verheimlichen oder, wie oft behauptet wird, um „die Welt zu erobern“, sondern um die Gedankenwelt der Freimaurerei von Außenstehenden abzugrenzen. Einer außenstehenden Person sind die Zeichen und Symbole der Freimaurer oft unverständlich und fremd.
Wir Freimaurer verstehen uns als Brüder. In einer Loge kann und soll auch offen miteinander und untereinander kommuniziert werden. Da ist es mehr als verständlich, wenn Interna nicht nach außen getragen werden sollen. Das „freimaurerische Geheimnis“ jedoch ist für jeden Bruder ein anderes, nämlich was Freimaurerei für ihn selbst bedeutet und wie er sie erlebt. Das Geheimnis der Freimaurerei muss jeder Maurer für sich selbst entdecken. Somit hat Freimaurerei auch etwas Egoistisches: Jeder Bruder besitzt unteilbare Erfahrungen.
Würde man zehn Brüder nach dem Geheimnis der Freimaurerei fragen, so würde man auch 10 unterschiedliche Ant-worten bekommen. Und das könnte für viele durchaus ein Grund sein, warum sie sich gerne in die Loge begeben: Weil sie dort eine Vielfalt an Ideen, Gedanken und Interessen erleben. Dieser Austausch ist für jeden bereichernd.
In früherer Zeit war die Wahrung der Geheimnisse noch viel dringender geboten als heute. Als die Kirchen und Kathedralen errichtet wurden, konnten die wenigsten Lehrlinge und Gesellen der Bauhütten lesen und schreiben. Deshalb wurden Symbole ein wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit. Auch die Zeichen und Worte wiesen den jeweiligen Status des Einzelnen aus, nach dem er auch seinen Lohn empfing. Kannte man die entsprechenden Zeichen und Worte und wusste um die Symbolik des jeweiligen Grades, so konnte man frei wandern und sich dort niederlassen, wo man Arbeit fand.
Viel wird darüber diskutiert, ob sich die Logen in der heutigen Zeit stärker nach außen öffnen sollten. Manche Logen betreiben eine sehr aufwändige und moderne Öffentlichkeitsarbeit, andere bleiben traditionell eher im Verborgenen. So wie jeder Maurer selbst für sich entscheiden muss, ob er sich nach außen als Maurer bekennt, sollte auch jeder sich so verhalten, wie es Mitgliedern einer Freimaurerloge am besten ansteht. Doch was überall in gleicher Weise beachtet werden sollte, was jeder Maurer unbedingt einhalten sollte, ist Verschwiegenheit. Es gilt nach wie vor, die Loge nach außen zu schützen und ihre Geheimnisse zu bewahren.
Vom Schweigen in der Loge
Gerade in unserer eher rastlosen und stürmischen Zeit sind Ruhe und Schweigen seltene und deshalb wichtige Güter. Gerade in einer Loge und vor allem zu den Tempelarbeiten suchen die Brüder und Schwestern nach Ruhe. Es ist also mehr als verständlich, wenn die Brüder auch dazu aufgefordert werden, ihre Handys auszuschalten, auch damit dem Alltag zu entfliehen und sich fallenzulassen in ihre meditative Arbeit. Und natürlich hat es mit einem gewissen Respekt zu tun, sich mit allen Sinnen und ganzem Herzen auf die Tempelarbeit einzulassen und den Worten des Bruders Redner zu lauschen.
Und nicht nur während einer rituellen Arbeit ist Schweigen ein wichtiges Gut. Auch im Umgang der Brüder untereinander geht es um das Bewahren von Anvertrautem. Wenn mir ein Bruder etwas in einem Gespräch anvertraut, so gilt ebenfalls das von mir einst als Aufzunehmender abgelegte Gelöbnis: Auf Maurerwort Schweigen zu bewahren. Dazu gehört im praktischen Umfeld auch, dass persönliche E-Mails und Nachrichten nicht ohne Wissen des Absenders an neue Adressaten weitergeleitet oder versendet werden dürfen. Der Maurer muss sich auf die Tugendhaftigkeit seines Bruders verlassen können, denn genau dies macht eine jahrhundertealte Bruderschaft aus.
Fazit
Zusammenfassend sei gesagt, dass diese drei Aufforderungen: „Höre, sieh und schweige“, nicht nur in der Freimaurerei die Grundlage für ein sinnvolles Gespräch sowie den Prozess des Lernens sind, sondern grundsätzliche Aspekte im mitmenschlichen Umgang. Sich gegenseitig zuhören und ausreden lassen ist Bestandteil jeder Beziehung. Wir wollen uns alle respektieren, einander zuhören, uns gegenseitig unterstützen, motivieren – eine Gemeinschaft sein; und das Tag für Tag. So fängt es in der kleinsten Einheit, der Partnerschaft und Familie an, erstreckt sich über das berufliche und soziale Umfeld und kann zu einer umfassenden Gemeinschaft führen, wie es die Freimaurer für sich seit Jahrhunderten anstreben.
Der Autor, Br. René Schon, ist Mitglied der Loge „Zur Wahrheit“ Nr. 582a im Orient Nürnberg und Herausgeber des Web-Blogs freimaurergedanken.com.
Leserbriefe
Prima!
Br. René Schon gebührt mein aufrichtiger brdl. Dank für diesen Beitrag. Gerade in dieser Zeit ohne regelmäßiges Treffen in den guten Bauhütten und den brdl. Gesprächen face to face, geben Gedanken wie diese Anregung, mal wieder den Hammer zur Arbeit an sich selbst in die Hand zu nehmen. Hören, sehen und Schweigen in Kombination mit Toleranz, wie könnte dies manchen Logenabend bereichern. Dieter Skoetsch, Neu-Anspach
Sehr geehrter Herr Schon, ganz vielen Dank für Ihren Beitrag, welchen ich sehr aufmerksam gehört und sehr genossen habe. Seit langer Zeit lese ich die wöchentlichen Informationen der Webseite.
Ich gebe gern zu, mir Ihre Audiodatei (was ich total genial finde! So habe ich gefühlt eine Bindung zu Ihnen, ohne Sie natürlich zu kennen – Super Idee, vielen Dank dafür) angehört zu haben, in völliger Ruhe, somit mal nicht gelesen zu haben.
Sie haben mir förmlich aus der Seele gesprochen, in der heutigen Zeit hört niemand mehr richtig zu, Redner werden unterbrochen und Diskussionen entstehen, wo eigentlich Informationen in die Runde der Gesprächsteilnehmer folgen sollten. Nun habe ich das Gefühl, dass dadurch die Anzahl der “Zeitdiebe” exponentiell zu steigen scheint.
Ich glaube, dass auch der ausgeübte Beruf, in dem man tätig ist, einen prägt und somit in seinem Leben unbewusst den von Ihnen angemerkten Kodex bedient und somit das Thema der Verschwiegenheit dann kein Thema.
Selbst bin ich ein “Suchender” (ich glaube das wird so genannt) und bin in der Johannes Loge 1091- MEISSEN/Sachsen sehr gern Gast bei den Abenden, wo dies halt möglich ist und hoffe natürlich, das ich zu den Brüdern passe und natürlich umgekehrt.
Nochmals Dank, Sie haben mich bestärkt, meinen Weg des Suchenden weiterzugehen. Mike Gösel, Freiberg.
Anmerkung der Redaktion: Die Podcasts werden nicht von den Autoren, sondern von professionellen Sprechern gelesen.
Prima! Oscat Bethge, Porto Alegre/Brasilien
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