Menü

Mit Anstand streiten

© melita / stock.adobe.com

Von Wolfgang Böhm

Plädoyer für eine tolerantere Gesprächskultur.
Festzeichnung zur Tempelarbeit auf dem Großlogentag 2022 in Berlin

Verträgt die brüderliche Harmonie den Widerspruch? Und kann man mit Anstand streiten? Was ist zu tolerieren und wo hört Toleranz auf, führt sie gar zur Selbstverleugnung? Wir brauchen eine Diskurskultur, in der es möglich ist, mit Anstand zu streiten, im Ringen um die bessere Einsicht, von mir aus auch hart in der Sache, aber respektvoll im Umgang miteinander und auf Augenhöhe.

Laut mit dem Freunde denken, nannte es Lessing in Ernst und Falk. Wie kann das gut gelingen, das brüderliche Gespräch, ein offener Diskurs und durchaus auch die kontroverse Diskussion? Es setzt eine Gesprächs- oder Diskurskultur voraus, in der die Gesprächspartner einander als gleichwertig erachten, auch dann, wenn sie nicht gleicher Meinung sind.

Wir alle haben das schon erlebt: Gespräche, in denen in kraftvoller Pose das intellektuelle Nichts dramaturgisch in Szene gesetzt wird. Es sind die unzähligen Gespräche, in denen viel geredet, aber wenig Substanzielles gesagt wird. Wenn nicht das Interesse am Gegenstand, sondern an der Selbstdarstellung im Vordergrund steht, wenn Vorurteile und Rechthaberei der besseren Einsicht im Wege stehen, wenn dominantes Verhalten, nicht Argumente, den Gesprächsverlauf prägen, dann muss sich der kritische Geist doch schließlich fragen, was das alles soll, und zu dem Schluss kommen: Es ist schade um die Zeit!

Paul Watzlawick sagt, Kommunikation ist, was beim anderen ankommt. Und das geht oft schief, weil nicht aufeinander Bezug genommen, nicht aufeinander eingegangen wird, sondern jeder vor sich hin monologisiert. Noch schlimmer, wenn keine Kommunikation der Verständigung stattfindet, sondern ein Kampf um die Meinungshoheit.

Dabei ist es eine Binsenweisheit: Monologe sind der Tod des Dialogs. Zudem gilt: Gespräche ohne Intention und Richtung sind Zeitverschwendung.
Es ist ein weitverbreitetes Phänomen, dieses aneinander Vorbeireden. Wir können es in unzähligen Talkshows beobachten. Die Diskutanten fordern (und zwar zu Recht), dass sie ungestört ausreden können und dass ihnen, bitteschön, zugehört werden solle. Um dann ihrerseits wiederum anderen ins Wort zu fallen, die (ebenfalls zu Recht) – fordern, doch endlich ausreden zu dürfen.

Was wir hier erleben, ist die Aneinanderreihung von Monologen, ohne wirklichen Erkenntnisgewinn, weit entfernt von einem sinnhaften Dialog.
Was sich da entwickelt hat, ist eine Unkultur, die das Attribut kommunikativ nicht verdient. Zumindest in den öffentlichen Gesprächsrunden geht es heutzutage meist um Ego-Shooting – da draußen in den Medien, der Öffentlichkeit, selbstverständlich nicht in unseren heiligen Hallen, wenn Brüder zusammentreffen. – Oder vielleicht doch auch dort?

Dabei sind Dialoge doch so wichtig, wenn wir unseren Horizont weiten, besser verstehen und zu tieferen Erkenntnissen gelangen wollen. Die Welt aus dem Blickwinkel des Anderen zu sehen, kann helfen, unseren blinden Fleck zu verkleinern. Dialoge sind notwendig, wenn wir unsere Gedanken teilen, und wenn wir uns mitteilen wollen.

Zu einem fruchtbaren Dialog gehört eben unabdingbar auch das Zuhören, und nicht nur das, es geht dabei vor allem darum, dem anderen „zugewandt“ zuzuhören, aufmerksam und vorbehaltlos. Gerade in unserer medial überfluteten Gesellschaft sind Orte der Besinnung wichtig, an denen der freie und offene Gedankenaustausch noch möglich ist. Deshalb sollten wir Freimaurer in unseren Logen, und nicht nur da, auf die Pflege einer guten Gesprächskultur achten. Unsere Altvorderen verstanden sich als Freidenker, als Intellektuelle (mit Herz und Verstand), geerdet und einer universellen Ethik der Menschlichkeit verpflichtet.

Für eine redliche geistige Auseinandersetzung bedarf es einer Kultur, in der dem Partner mit Wertschätzung begegnet wird, und in der es dennoch möglich ist, kontroverse Standpunkte zu vertreten. Eine Kultur, in der das Gegenargument als herausfordernder Denkanspruch, nicht als narzisstische Kränkung wahrgenommen wird.

Wenn dies verloren geht, verlieren wir dann nicht auch eine wesentliche Kulturfähigkeit, eine, die das Menschsein überhaupt ausmacht? „Dass wir miteinander reden können, macht uns zu Menschen“, sagte Karl Jaspers. Zu ergänzen wäre, dass es inzwischen auch sehr darauf ankommt, wie wir miteinander reden.

Die Loge als Insel in einer Welt der kommunikativen Verflachung

„Deutschland ist im Kampfmodus“, schreibt die Professorin für Journalismus und ehemalige Moskau-Korrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz: „Andersdenkende werden verunglimpft, und statt aufeinander zuzugehen, breitet sich in der Öffentlichkeit ein aggressives Klima der Intoleranz aus.“ Die Autorin plädiert für eine bessere Streitkultur und einen respektvollen Umgang in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung.

Die kontroverse Auseinandersetzung setzt allerdings voraus, dass Standpunkte geklärt werden und die Diskutanten zunächst prüfen, ob die Informationsbasis, von der sie ausgehen, vollständig oder zumindest ausreichend und faktisch belegt und gesichert ist. Und sie sollten sich klar darüber sein, was sie wirklich erreichen wollen: rechthaberisch auf ihrer Position beharren oder zu Lösungen finden, die weiterführen.

Könnten unsere Logen nicht Orte sein, an denen dies – ein respektvoller, menschlicher Umgang und eine um das bessere Argument ringende Streitkultur – gepflegt und immer wieder eingeübt werden? Eine Kultur der offenen und ehrlichen Diskurse, eben mit Herz und Verstand. Die Loge gewissermaßen als Kulturinsel in einer Welt der kommunikativen Verflachung, ein Ort, an dem in all der Aufgeregtheit unserer Zeit das Denken und auch das Nachdenken die Grundlage sind, auf der ein offener Austausch der Standpunkte und Meinungen, aber eben in gegenseitigem Respekt, möglich ist. Es genügt nicht, von Toleranz und brüderlicher Eintracht zu reden. Der Begriff der Toleranz wie auch der Meinungsfreiheit wird heutzutage ja gern missbraucht. Toleranz meint eben nicht, jede geistige und verbale Entgleisung widerspruchsfrei hinnehmen zu müssen, sondern die andere Position und Meinung zwar zuzulassen, sich dann aber durchaus kritisch mit ihr auseinanderzusetzen, und zwar mit Argumenten. Dabei kommt es auch auf die Form an. Persönliche Diffamierungen, Gehässigkeit, Beleidigungen und Lügen sind nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt. Sie sind nicht Meinung, sondern eine Respektlosigkeit.

Streiten ohne Rechthaberei und Diffamierungen

Die oft beschworene „brüderliche Harmonie“ wird massiv gestört, wenn Rechthaberei und Diffamierung die kritische inhaltliche Auseinandersetzung unmöglich machen, wenn Ideologien den kritischen Verstand ausblenden, wenn in einem aggressiven Kampfmodus die nötige Gelassenheit fehlt und damit die reflektierte Selbstkritik und der gegenseitige Respekt verloren gehen. Schlicht, wenn Intoleranz und Machtstreben eine konstruktive Streitkultur unmöglich machen.

Toleranz meint auch nicht die indifferente Haltung der Beliebigkeit. Etwas hinzunehmen, das uns gleichgültig ist. Toleranz in unserem Verständnis erlaubt – ja fordert geradezu – einen eigenen Standpunkt zu haben. Aber eben auch, den anderen Standpunkt zuzulassen, selbst dann, wenn man ihn nicht für richtig hält.

Die Klärung konträrer Standpunkte in gegenseitigem Respekt stört die Harmonie nicht. Im Gegenteil. Konflikte werden nicht gelöst, indem man sie unter den Teppich kehrt. Wenn wir wirklich eine Gemeinschaft in Harmonie anstreben, ist es sogar unabdingbar, dass Probleme angesprochen werden. Das gilt in Familien, unter Freunden und Kollegen und auch in der Loge. Konflikte sind jedoch durchaus produktiv und führen weiter, wenn sie konstruktiv gelöst und überwunden werden.

Ein weites, differenziertes Denken fordert kein „entweder – oder“, denn das macht Druck und engt ein, es lässt vielmehr ein „sowohl als auch“ zu, mit dem sich neue Perspektiven eröffnen und vielleicht sogar Gegensätze überwinden lassen. In guten Gesprächen geht es nicht um Rechthaben oder Obsiegen, sondern es geht darum, gedanklich und menschlich gemeinsam weiterzukommen.

Wenn wir den freimaurerischen Anspruch, „von Vorurteilen befreit, auf der Suche nach Wahrheit“, ernst nehmen, was bedeutet das dann? Doch vor allem, zu fragen und zu hinterfragen, um zu verstehen, anstatt aus unserer begrenzten Erfahrungs- und Vorstellungswelt die Welt zu erklären. Denn genauso, wie wir diese Welt sehen, ist sie eben nicht.

Toleranz erfordert Bereitschaft zum Diskurs

Wer Wahrheiten verkündet und behauptet, der muss auch begründen können. Und er muss sich gefallen lassen, dass der kritische Geist Fragen stellt. Fragen, die auf den Grund gehen, beispielsweise: „Woher weißt du das? Was macht dich in deiner Auffassung sicher? Woraus leitet sich das ab, was du behauptest? Gilt das auch im konkreten Fall? Kann das, was du behauptest, als allgemeingültig angesehen werden und wenn ja, weshalb?“

Freimaurerische Toleranz kann andere Sichtweisen als denkbare Möglichkeit zulassen und ertragen. Was wir tolerieren, müssen wir nicht mögen. Und wir müssen es nicht zu unserer eigenen Auffassung machen. Wir sollten aber ertragen, dass es andere Sichtweisen, Meinungen, Vorstellungen gibt, ohne persönlich abzuwerten, auszugrenzen oder in eine feindschaftliche Haltung zu verfallen.

Dem freimaurerischen Toleranzprinzip entspricht eine Diskursethik, die von einer herrschaftsfreien Redesituation, nach Jürgen Habermas, ausgeht, in der nach Erkenntnis und Konsens gestrebt wird. Sie fordert eine Selbsteinsichtigkeit, die keiner externen Herrschaft bedarf, wie es Immanuel Kant formulierte. Und sie lässt eine Erkenntnisdynamik zu, in der es gelingt, von vorgefassten Meinungen loszukommen, im Diskurs unterschiedliche Sichtweisen zu reflektieren und zu relativieren, um so den Horizont zu erweitern und zu gesicherteren Standpunkten zu kommen.

Toleranz erfordert die Bereitschaft zum Diskurs, auch zur Kontroverse. Diskursverweigerung hat nichts mit Toleranz zu tun, im Gegenteil. Intoleranz entsteht genau dort, wo eine exklusive Moral ex cathedra verordnet wird. Doch an der Stelle, an der Ideologien, Doktrinen oder Religionen keine Vernunftbasis haben, beginnt die, diesen Moralen inhärente Intoleranz ihren eigenen moralischen Anspruch zu pervertieren und den Weg zu Bevormundung, Verdummung, Unterdrückung und Gewalt freizugeben. Deshalb ist für uns als Freimaurer wichtig, dass beides zu seinem Recht kommt, Vernunft und Menschlichkeit.

Harmonie entsteht durch respektvolle Streitkultur

In der Sache streiten, das geht auch mit Anstand. Wenn wir über brüderliche Eintracht reden, dürfen wir allerdings nicht außer Acht lassen, dass die Brüder so sind, wie sie nun einmal sind: Individuen mit ihren Charakteren, Vorstellungen, Interessen, Erfahrungen, Wünschen, Gewohnheiten und Verhaltensweisen. So verschieden eben, wie Menschen sein können.  Und auch in unserem Bund gibt es den Grundkonflikt, den es in jeder Gemeinschaft gibt, nämlich den der Selbstbehauptung einerseits und der notwendigen Anpassung zur Integration in die Gemeinschaft andererseits. Das ist ein Konflikt, den wir alle, jeder von uns, aushalten müssen und den nur der Einzelne für sich lösen kann.

Harmonie kann nicht verordnet werden, sie entsteht im Miteinander und erfordert eine auf gegenseitige Achtung gegründete Diskurs- und Streitkultur. In diesem Sinne können unsere Logen – gerade in dieser Zeit – Kulturinseln sein, die nach außen wirken, wenn wir in diesem Sinne als Vorbild wahrgenommen werden.

Die nötigen Werkzeuge haben wir in den drei Johannisgraden erhalten, wir müssen uns nur immer wieder darauf besinnen. Und wir müssen es tun, denn von Toleranz allein zu reden, genügt nicht.

Dieser Beitrag stammt aus dem Heft 4-2022 der HUMANITÄT, dem deutschen Freimaurer-Magazin. Das Heft kann bei der Kanzlei abonniert werden.