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Symbole erkennen

Abbildung: Oliver Wißmann

Symbole erkennen

Von Br. Oliver Wißmann


Egal welcher Zukunft die Freimaurerei entgegen geht, Symbole begleiten den Einzelnen auf seinem Weg. Zukünftiges bewegt umso mehr, wenn Änderung und Wandel anstehen. Leben ist Bewegung! Die Freimaurerei und ihre Symbole sind zeitlos.
Die Kunst, diese Symbole zu beleben, vermag aus einem rauen Stein einen „Fels in der Brandung“ entstehen zu lassen. Daher nannte man sie auch die Königliche Kunst. Sie öffnet dem Lehrling weit ihre Pforten. Den letzten Weg zu ihr hin gilt es meisterlich zu überwinden – Symbole weisen den Weg. Diese Symbole sind unsichtbar und nur intuitiv (lat. unmittelbare Anschauung) zu erfassen. Die freimaurerische Kunst lehrt, Symbole von „Symbolen“ zu unterscheiden. Mit Worten lässt sie sich nur umschreiben oder andeuten. Im 16. Jahrhundert nannte man sie auch Philosophia perennis (lat. immerwährende / ewige Weisheit). Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) sah in ihr eine universelle wissenschaftliche Formalsprache (Universalsprache) und Hermann Hesse (1877–1962) skizzierte sie im Glasperlenspiel. Eine gewisse Kunstfertigkeit lässt sich dadurch erwerben, dass man ihre Gesetzmäßigkeiten erkennt und anwendet („Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben“). Durch das Prinzip „Freiheit“ entwickelt sich schließlich ein Freimaurer zum „Menschen“ – ganz im Sinne der Zauberflöte: „Er ist Prinz! Mehr noch! Er ist Mensch!“

Gesetzmäßigkeiten finden sich u. a. bei der Tafelloge. Schwierige Themen beim Essen zu meiden und stattdessen bewusst dem Smalltalk den Vorzug zu geben, ist eine kulturelle Leistung. Das Gemüt bleibt auf diese Weise ganz auf den Genuss der Speisen konzentriert, was sich förderlich auf deren Bekömmlichkeit auswirkt. Kultiviertes Essen und die sinnliche Genussfähigkeit sind die Geschwister der Kunst des Zubereitens von Speisen. Jedwede Kunst beansprucht die volle Aufmerksamkeit für sich alleine. Zwei Künste gleichzeitig bewusst zu genießen, ist nicht möglich. Wie eine „echte Dame“, so duldet auch die Kunst naturgemäß keine zweite neben sich. Daher räumt der Ästhet einer Kunst Exklusivrechte ein. Mit der „Königlichen Kunst“ verhält es sich ganz ähnlich – der Freimaurer übt sich daher bei der Tafelloge in Achtsamkeit durch Mäßigung.

Bei den Logenzusammenkünften verhält es sich wie bei der „Essthetik“ (Essen & Ästhetik). Weil die Themen „Politik“ und „Religion“ sich vorzüglich eignen, den inneren emotionalen Haushalt hochkochen zu lassen, vermeidet man sie in einer Loge. Eigentlich sollte es vor Ort nie um diese Themen gehen, sondern um den Einzelnen in seinem Bestreben „Mensch zu werden“. Schon in der ersten Konstitution der Großloge von England und den daraus resultierenden „Alten Pflichten“ (Old Charges) galt den oben genannten Themen grundsätzlich eine von der Freimaurerei getrennte Behandlung. Diese Vermeidungsstrategie stärkt die Verbundenheit der Brüder untereinander als Einheit hinter den Gegensätzen. Der Besucher einer Loge zeigt sich durch dieses Meiden von religionspolitischen Themen „empfangsbereit“ für das Angebot geistiger Kost (von „kostbar“) – die Voraussetzung für Genuss. Auf dieser Basis kann das Ideal brüderlichen Miteinanders gepflegt und Toleranz zur Tugend werden; das Neben- und Miteinander von zum Teil konträren Meinungen ist durchaus möglich. Längst ist es allgemeiner Sprachgebrauch, dass Freimaurerei keine „Religion“ sei. Doch trifft dies auch auf ihre Symbole zu?

Symbole im Mittelpunkt

Den zentralen Mittelpunkt einer freimaurerischen Arbeit bilden ihre Symbole. Während einer Tempelarbeit stellt das Ritual eine bewusst „überzogene Realität“ dar. Nur so wird eine vom Alltag unterschiedene Bühne geschaffen, auf der die Symbole inszeniert, im geistigen Licht betrachtet und reflektiert werden. Dies ist der einzige Moment, in dem der Freimaurer seine Symbole im Sichtbaren bewusst erlebt – in einer vor der Außenwelt geschützten Atmosphäre.
Symbole finden sich allerdings auch zentral im Mittelpunkt religiöser Rituale. Die Freimaurerei ist keine Religion, aber – auf ihre Symbole bezogen – vielleicht doch „religiös“? Wie kann das sein: Keine Religion, aber religiös? Eine Antwort liegt im Begriff „Symbol“ und ist immanent.

Der Ausdruck „Symbol“ leitet sich über das Lateinische symbolum vom Altgriechischen sýmbolon her, was bekanntlich als „Kennzeichen“ übersetzt wird. Griechischen Bräuchen zufolge brach man beispielsweise einen Ring oder eine Münze in zwei Teile und nutzte die Hälften als Erkennungszeichen. Beim erneuten Treffen setzte man die Teile wieder zusammen (als Beweis oder Passwort). Die Einzelteile ergeben vollständig wieder das Ganze. Vordergründig ist darin eine „Verbundenheit“ zu sehen, hintergründig ein Weltbild.

Religiöse Symbole

Die Herleitung von „Symbol“ aus dem Griechischen über das Verb symbállein („zusammenbringen“) ist vergleichbar mit der Bedeutung des Begriffs „Religion“ aus dem Lateinischen religare („wiederverbinden“). Das (Wieder-)Verbinden bildet die Bedeutungs-Schnittmenge zwischen „Symbol“ im Sinne von „zusammenbringen (zweier vertraglich gebundener Parteien)“ und „Religion“ im Sinne von „wiederanbinden (mit Gott)“.
Die römisch-katholische Kirche leitet das Wort „Religion“ aus dem Lateinischen religare („zurückbinden, (Zurück-)bindung an Gott“) her, doch ist diese Betrachtung umstritten. Dem Sprachwissenschaftler Daniel Scholten (*1973) [www.belleslettres.eu] zufolge stützt sich die römische Kirche in dieser Fragestellung auf ihren Kirchenvater Lactantius (250 – 320), der seine eigene Herleitung als Dogma erklärte: Er begründet die Anbindung an Gott durch das sogenannte „Band der Pietas“ [Divinarum institutionum VII, IV, 28].

Die protestantisch aufgeklärte Philologie führt ab dem 16. Jahrhundert zunehmend den Ursprung des Begriffs „Religion“ auf das Verb re-legere „wieder-auflesen/-sammeln/-wickeln, bedenken, beachten“ zurück und verweist auf Cicero (106 v. Chr. – 43 n. Chr.). Bereits 200 Jahre vor Lactantius leitete er „Religion“ als Kompositum von legere ab und meinte das „erneute Lesen“ und immer wieder „erneute Denken“ (relegere) sei der Schlüssel, das Religiöse (das „Seriöse“) vom Aberglauben (das „Unseriöse“) zu unterscheiden. Nach ihm sollten Gebräuche und Zeremonielles immer wieder erneut gelesen und geprüft werden [De Natura Deorum II, 72].
In den 1970er Jahren entdeckte der Indogermanist und Etruskologe Helmut Rix (1926–2004) die Möglichkeit der Sprachvermischung zweier völlig unterschiedlicher Wurzeln und leitete über das Griechische religere von der Ausgangsbasis religio im Sinne von „auf etwas geistig fixiert zu sein“ her. Scholten zufolge „die geistige Fixierung auf etwas, woraus das Handeln und das Denken in gewisse Bahnen gezwungen wird und sich daraus ein gewisses zwanghaftes rituelles Handeln ergibt“ [www.belleslettres.eu].

Demnach übernahm Lactantius zwar die ursprüngliche Bedeutung von religio, aber er übertrug sie auf sein Dogma, das er aus der „Pietas“ ableitete. Die Pietas war einst die römische Ur-Tugend: Das Alte Rom verstand unter pietas (deutsch Pietät / Pius, der „Fromme“) eine Art „Vertrag“ zwischen Gott und Mensch; eine absolute Pflichterfüllung nicht nur gegenüber der Familie, sondern auch die grundsätzliche Achtung und Respektierung sozial höhergestellter Ämter. Die Pietas war die zentrale Vorstellung von der Ehrfurcht gegenüber den Göttern (Religion) und das Fundament eines hierarchischen Weltbilds (Politik). Die römisch-katholische Kirche beruft sich heute hierauf.
Nach Scholten leitet sich „Religion“ keinesfalls von religare ab, sondern von religio im Sinne einer „Ausübung gezielten Denkens und Handelns verstärkt durch Ritualistik“. Diese Herleitung ist durchaus mit der Freimaurerei vereinbar. Es bleibt dabei: Freimaurerei ist keine Religion, aber im Sinne einer Ableitung von religio kann die Freimaurerei durchaus „religiös“ genannt werden. Allerdings lässt sich auch das „Wiederverbinden“ (religare) mit der Wortbedeutung „Symbol“ vergleichen. Die Königliche Kunst wäre demnach mit den Symbolen im Zentrum der Freimaurerei „religiös“ – aber keinesfalls im Sinne von „gläubig“!

Symbole verbinden

Paulo Coelho (*1947) lässt in seinem Roman „Der Alchimist“ seinen alten König, der mit der Brustplatte an den biblischen König Melchisedek (Aaron oder Salomon) erinnert, die Forderung aussprechen, die zentral ist: „Lerne die Zeichen zu erkennen und folge ihnen.“

Die Symbole der Freimaurerei stehen vor dem historischen Hintergrund mittelalterlicher Kathedralenerbauer und werden allgemein gerne als „Werkzeuge“ erklärt und dargestellt. Zwei Arten könnte man (grob) in der Freimaurersymbolik unterscheiden: Traditionelle Symbole und Allegorien. Es steht außer Frage, dass Handwerkszeug für das Bauen mit Stein und Holz (Carbonari) im Leben der operativen Baufachleute eine große Rolle spielte und somit symbolisch einbezogen wurde.Die andere Gruppe ist von allegorischer Qualität. Beide zielen auf die Entwicklung von Mensch und Menschheit. Beispielsweise trat zu Beginn des 18. Jahrhunderts (in den weiterführenden Graden) der Bau des Salomonischen Tempels als allegorisches Motiv hervor. Es gibt aber auch allegorische und symbolische Darstellungen, die mit der Tempelbausymbolik weniger zu tun haben.

Der kosmische Darstellungskomplex ist hierfür stellvertretend: Unter den sogenannten drei „Großen Lichtern“ verstehen wir heute das Buch des heiligen Gesetzes mit Zirkel und Winkelmaß. Nach Zeijlemaker Jnz wurden früher der „Flammende Stern, gemeinsam mit Sonne und Mond, als diese drei Lichter der Freimaurerei angesehen, da in dieser Zeit die Bibel, der Zirkel und das Winkelmaß noch zur Ausstattung (furniture = bewegliche Kleinodien) des Tempels“ gehörten. Die kosmischen Symbole Sonne, Mond und Sterne (Meister) werden heute – mit den drei Säulen (Weisheit, Stärke, Schönheit) – als „Kleine Lichter“ assoziiert. Wenn die Symbole des Himmels und der Erde – Zirkel und Winkel – während einer Logenarbeit zusammengeführt werden, dann entsteht symbolisch das Universum. Neben den symbolischen Werkzeugen der Handwerksgilden und Tempelerbauer werden im Folgenden auch die allegorischen Momente der Tempelbausymbolik u. a. unter den Begriff des (freimaurerischen) „Symbols“ subsumiert.

Das System freimaurerischer Symbole kann durchaus probate Hilfestellung geben – analog steht dafür das „Werkzeug“ (tool). Das Symbolverständnis der Königlichen Kunst ist ein tradierter veritabler Fundus und (religiös-)philosophischer Schatz, der (eine Art archäologischen) Einblick in das antike Weltbild gewähren und mittelalterliche Perspektiven einnehmen lässt. Hierdurch können adäquat historische Inhalte und Verknüpfungen wieder greifbar und Sichtweisen verständlich werden [„Der Grüne Strahl im Straßburger Liebfrauenmünster“, 2018].

Was sich durch das „Wort“ vielleicht nicht vermitteln lässt, darauf deuten die alten Symbole [„Die Sprache der Symbole“, in „humanität 1/19“]. Symbole sind demnach von philosophisch-spirituellem Wert. Wie bereits gesehen, bedeutet Symbol „zusammenbringen“ (griechischen symbállein). Wen soll das (religiöse) Symbol „wieder verbinden“? Etwas soll zusammengebracht werden, das offensichtlich als „passend“ gesucht werden muss. Kann hierdurch auch der Anschluss an einen weiteren Lebensweg gemeint sein oder das Auffinden des „eigenen“ Weges als eine Art Lebensaufgabe? Allgemein sind die Symbole dem Freimaurer Markierungen in einer noch im „Dunkeln“ liegenden Zukunft, die ihm analog Orientierung im Profanen bieten.

Gibt es das Gegenteil von Symbol?

Bekanntlich lässt sich auch über das Gegenteil das Wesen einer Begrifflichkeit ermitteln (Negative Theologie). Das Gegenteil von griechisch Symbolon wäre demnach „Dia-bolon“: Das oppositäre Verb zum griechischen symbállein („zusammenwerfen“) ist diabállein – dia „auseinander“ und bállein „werfen“, zusammengesetzt zu diabállein „Zerwürfnis stiften“. Der altgriechische Diábolos bedeutet wörtlich der „Durcheinanderwerfer“ im Sinne von „Faktenverdreher“, im Lateinischen Diabolus – nach Goethes Faust des „Pudels Kern“, der plötzlich den Mephisto wie aus dem Nichts mitten im Geschehen erscheinen und Gestalt annehmen lässt. Ist etwa das Gegenteil des Symbols der Teufel?!

Wenn das freimaurerische Symbol Hilfestellung gibt, den eigenen Weg zu finden, die losen Anschlüsse des Lebensweges miteinander zu verbinden, der Lebensaufgabe gerecht zu werden, dann müsste man inhaltlich unter dem Gegenbegriff von Symbol das Gegenteil annehmen: Nämlich alles das, was den ernsthaft Suchenden von seinem eigenen Weg abhält, ablenkt, verwirrt oder auf Irrwege schickt.

In den Religionen der Welt wird dieses „Ablenken“ wesenhaft als etwas Eigenständiges und Übernatürliches personifiziert, als „Verwirrer“ oder „Verleumder“ (spanisch Diablo). Im Abendland war es die römisch-katholische Kirche, die dieses Wesen zum Teufel machte – vieles steckte sie innerhalb der vergangenen 2000 Jahre unter dessen Hut und machte seine unterschiedlichsten Träger gleich. Doch hier geht es originär um den „Durcheinanderwerfer“ (Diábolos).
Bezieht sich dieses Durcheinanderwerfen auf eine Ordnung, entsteht Chaos (griechisch „Kluft“). Das Symbolische entspricht der Ordnung und das Diabolische dem Chaos. Das Symbolische überbrückt die „Kluft“ (das Chaos, das Diabolische) und führt den Suchenden zur Ordnung.

Der Symbolische Weg

Nach populärer christlicher Vorstellung soll der „Teufel“ (Diábolos) ursächlich die Stammeltern Adam und Eva trotz Verbot verführt haben, vom „Baum der Erkenntnis“ zu essen. Darin sieht man die „Ursünde“, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Die Strafe sei folgenschwer für alle Nachkommen: Leid und Tod. Doch ist das wirklich die „Ursünde“? Oder besteht eine „Sünde“ einfach darin, dass man in diese Welt geboren wird und von einem Zustand in den anderen gelangt – durch Trennung? Der Begriff „Sünde“ kommt auch vom Wort „Absonderung“. Ein anderer Bezug aus dem Norddeutschen „Sund“, was „Landtrennung, Bruch“ meint, lässt einen ähnlichen Schluss zu. Eine Geburt stellt – auch als geistiger Prozess – diese Absonderung dar. In der Gnosis (griechisch Erkenntnis, Wissen) wurde der Geist oder die Seele als Abspaltung vom universalen Weltengeist gesehen – vermeintlich getrennt im Körper eines jeden Lebewesens. Schöpfung und der Akt des Zeugens sind ein fortwährender Prozess des Trennens und des Abspaltens.

Der erste Sündenfall geschah keinesfalls durch den Menschen! Dies zeigt beispielsweise die griechische Mythologie: Es waren die Götter selbst, die sich voneinander trennten. Sie fielen aus der (Ur-)Einheit in die Dualität (Welt der Gegensätze). Um einst diesen Sturz aus der Einheit zu unterbinden (das „Geborenwerden“), versteckte Uranos seine Nachkommen, die zwölf Titanen, tief im Bauch Gaias. Uranos wird schließlich entmannt, entmachtet und der Fall ist unaufhaltsam. So teilen sich die Götter untereinander in viele Urprinzipien auf; einerseits verbleiben sie in lichten Höhen, anderseits steigen sie hinab in die Finsternis der Unterwelt. Nach Guthrie wird im thebanischen Kult Dionysos schließlich von den Titanen zerrissen und verschlungen, worauf sein Vater Zeus sie zu Asche verbrennt, aus der schließlich das Menschengeschlecht entstand. Die Spaltungsproblematik ist auch das Thema um Prometheus, der Qualen erlitt, um den Menschen das Feuer der Schöpfung zu vermitteln [Quinque „Die Fackel des Prometheus“]. Die antike Philosophie beschäftigte sich eingehend mit der Abspaltung der sterbenden Mysteriengötter. Plutarch, Plotin, Proklos, Damaskios und andere erklären die „Zerreißung“ als eine Art Zeugungsakt, der schließlich einen Geburtsvorgang einleitet: Nach Burkert muss sich die Weltseele für die Entstehung des beseelten Universums aufteilen, um sich mit der Materie in Raum und Zeit zu verbinden.

Wie Wolfgang Scherpe darlegt, beziehen sich freimaurerische Symbole auf die Genesis. In ihnen liegt rituell das Bewusstsein fortwährenden Trennens – die Abspaltung aus der Einheit. Diese Symbole bilden den Kern des rituellen Kreislaufs. Ihr Studium und der intuitive Zugang lassen den Freimaurer die Symbole deuten und in sich zusammenfügen. Die Königliche Kunst lässt ihn dahin streben, selbst „Mittelpunkt“ zu werden.

Heilige Zeichen

Die Empfindung des „Getrenntseins“ wurde philosophisch schon oft in unterschiedlichen Gesellschaften diskutiert. Man stellte sich früher unter anderem die Geburt „hier unten“ auf der Erde als eine Trennung „von oben“ vor. Die Vorstellung, dass die Seele hierzu aus den „oberen“ Sphären herabsteigt, ist nicht selten zu finden. Folglich steigt sie nach dem Verlassen des Körperlichen (Materie) wieder dort hinauf (in das Geistige). Diese bildhafte Symbolgeschichte findet sich auch in der biblischen Traumvision Jakobs auf dessen Flucht vor Esau, als er die sogenannte „Jakobsleiter“ (Gen 28, 11–17) erblickt. Auf dieser Leiter (oder Treppe), die vom Erdboden bis in den Himmel reicht, steigen unablässig Engel hernieder und herauf. Auch Platon (428–347 v. Chr.) war der Idee der „Seelenwanderung“ zugetan (u. a. Phaidon). Im christlich dominierten Abendland sprach man darüber nur hinter vorgehaltener Hand.

Das Absteigen der Seele ist gleichzusetzen mit dem oben beschriebenen „Fall aus der Einheit“. Der „gefallene Engel“ ist hierfür stellvertretend und nimmt in „Luzifer“ symbolische Gestalt an. Lucifer meint wörtlich aus dem Lateinischen übersetzt „Lichtträger“ (lux = Licht und ferre = tragen, bringen) und ist an anderer Stelle der Name des strahlenden Morgensterns (Planet Venus). Rational kann doch eigentlich ein symbolischer „Lichtträger oder -bringer“ kein Vertreter der Dunkelheit sein? Trotzdem wurde „Luzifer“ im Laufe der Geschichte nach und nach mit dem Teufel gleichgesetzt. Doch auch ein Träger des Lebenslichtes sucht nach seinem Sturz in die Tiefe wieder einen Weg hinauf zum Licht – gleich wie der „Mensch“ (hebr. Adam) nach seiner Vertreibung (Fall) aus dem Paradies wieder seinen Weg zu gehen wünscht, der ihn in seinen Garten führt. Suchen wir nicht auch in diesem Leben unseren Weg, der uns wieder in die Einheit (zurück) führt?

Die Essenz einer symbolischen „Vermittlung“ – von Trennen, Verwerfen und wieder Zusammenfügen – findet sich prägnant schon im Osiris-Mythos der Ägypter. Osiris wird durch seinen Bruder Seth hinterrücks ermordet. Beim ersten Versucht werden 72 Verschwörer angeheuert. Beim zweiten Mal wird die Leiche Osiris‘ schließlich zerstückelt und in alle Himmelsrichtungen verstreut. Isis sucht die Überreste ihres Gemahls und fügt sie wieder zusammen. Einzig der Phallus bleibt verschwunden, weshalb dieser durch einen hölzernen ersetzt wird. Auf diese Weise wird das gemeinsame Kind Horus gezeugt.

Der Akt des Zerstückelns (Zerreißung) mag durchaus martialisch anmuten, doch erkennt zum Beispiel ein Kabbalist an den 72 Mitverschwörern ihm bekannte Parallelen: Der zahlsymbolische Hinweis lässt „göttliches“ Einwirken erkennen, denn er weiß um die 72 Namen Gottes (jeweils bestehend aus drei Hieroglyphen). Der Osiris-Mythos ist uns aus der Antike zwar als Kosmogonie bekannt, aber den Ägyptern selbst war er in erster Linie ein symbolisches „Lehrgedicht“. Es handelt sich bei den symbolischen Göttern um Prinzipien (Allegorie), die die unterschiedlichen Wesensanteile des Menschen erklären. Vereinfacht handelt es sich um das Körperliche (Osiris), zum anderen das Geistige (Isis) und schließlich um die Seele (Horus). Im Mythos (inter-)agieren sie vielschichtig und bedeutungsvoll miteinander. Kurz: Der Prozess der eigentlichen „Menschwerdung“! Dieser Schöpfungsakt findet somit allegorisch in einem Menschen statt (Erleuchtung). Auch eine freimaurerische Tempelarbeit führt uns jedes Mal diesen symbolischen Schöpfungsweg vor das geistige Auge. Damit der Mensch zum „Menschen“ wird, muss er das in ihn gesetzte Licht weiter zum Strahlen bringen und seinen Weg finden, der ihn aus der Finsternis (Irrwege) zurück „in lichte Höhen führt und Irdischem entfliehen lässt“.

Der modernen Zeichentheorie (Semiotik) zufolge finden sich Symbole überall. Die alten Symbole der Freimaurerei sind viel mehr als „Symbole des Alltags“! Sie helfen, Natur-Prinzipien in sich selbst Wirklichkeit (= wirken) werden zu lassen (Wesensanteile zusammenzutragen), um sich als „Mensch“ zu entfalten. Die Symbole der Freimaurerei verbinden uns mit unserem Weg und sind deshalb dem Worte nach „Heilige Zeichen“. Sie verweisen auf den Weg in die Einheit (Mittelpunkt), um dafür wieder „heil“ zu werden – im Sinne von wieder ganz (= ergänzen). Andere Zeichen, Handlungen, Events oder Gruppen, die uns von unserem inwendigen Weg (zu uns selbst) ablenken oder/und uns von unserem Selbst abhalten, sind genau das Gegenteil von symbolisch (griech. symbállein „zusammentragen“): Alles das, was uns von uns wegführt, ist demnach diabolisch (griechisch diabállein „auseinanderwerfen“).

Die Essenz des Lebens ist Bewusst-Sein! Weisheit zu empfinden (= finden), ist der tiefe Sinn dieser Symbole. Sie dienen der Markierung (Marken) eines Weges (Pilgerschaft). „Erkennen“ geschieht nicht durch Wissen (rationales Studium), sondern durch Intuition (lat. unmittelbare Anschauung). Christliche Mystiker wie Meister Eckhart (1260–1328) betonten dies stark und verwiesen auf Kontemplation (Meditation). Auch Antoine de Saint-Exupéry (1900–1944) wies eindrücklich darauf hin, dass das Wesentliche für das Auge unsichtbar sei und nur durch das Herz (Intuition) erfassbar sei. Übrigens: Hinduismus, Buddhismus u. a. lehren diese Erkenntnis als Fähigkeit lokalisiert im Herzchakra, in der Form zweier ineinander gestürzter Dreiecke (= Hexagramm).

Das Symbol meint begrifflich (wie oben gesehen) das „Verbinden der Zeichen“, die uns unseren eigenen Weg weisen, um schließlich „zusammenzubringen“, was zusammengehört: Unsere verstreuten Wesens(an)teile. Indem wir uns verschiedenen Szenen des Lebens aussetzen und uns ihnen stellen, finden wir uns. Durch rechtes Handeln „meistern“ wir die Situationen und machen sie uns zu eigen. Die Symbole weisen damit auf den Prozess hin, den man „Ent-Wicklung“ nennt – Situationen „lösen“. Das Gegenteil von Entwicklung ist die „Verwicklung“: Geht man seinen „Aufgaben“ aus dem Weg und sucht Hilfe in Vermeidungsstrategien, dann verbleiben Konfliktpotenziale und man „verwickelt“ sich (Unbewusstsein). Ablenkungen aller Art, die uns schließlich vom eigenen Weg abhalten – bewusst oder unbewusst – führen von uns weg und sind demnach (wie oben beschrieben) „diabolisch“.

Fazit

Freimaurerische Symbole sind keine willkürlichen Zeichen, die sich an ihren „Bruchkanten“ erkennen lassen (nach griechischen Bräuchen). Die alten Symbole der Kathedralenerbauer sind nicht für einen irdischen Gebrauch. Sie geben vielmehr Orientierung auf dem geistigen Weg. Sie leiten uns bei der Suche und helfen, uns dort zu „verbinden“ (griech. symbállein), wo wir uns einst „getrennt“ (griech. diabállein) haben: in der „Einheit“! [„so sind wir einst zusammengekommen …“]

Die Symbolik, wie sie in der Freimaurerei gepflegt wird, bezieht sich auf „Heilige Zeichen“ (heil – auf die Einheit abzielend). Heilige Zeichen bildeten einst auch den Mittelpunkt der Religionen. Die Religionen wurden über die Jahrhunderte zu Institutionen und haben sich als solche „verselbstständigt“.

Wohl dem, der „seine“ Zeichen erkennt und ihnen folgt – ihm liegt ein Weltreich zu Füßen: Nämlich er selbst! Er vermag seine Zeichen von allen anderen zu unterscheiden. Diese Entdeckung macht ihm das Symbol „wahrhaftig“ und (be)greifbar. Hat er ein Symbol erkannt, reihen sich dahinter alle anderen Symbole auf wie die Glieder einer Kette. Das erste Symbol, das er auf diese Weise entdeckt, erreicht ihn wie das „Licht, das die Finsternis nicht ergriffen hat“ (Joh. 1, 5). Dieses Symbol ist für ihn, was für Theseus das Geschenk der kretischen Prinzessin Ariadne war: Der rote Faden, der ihn schließlich aus dem Labyrinth des Lebens finden lässt. Die Königliche Kunst lehrt uns daher, unsere größtmögliche Achtsamkeit auf die unsichtbaren Verbindungen zwischen den Symbolen zu richten. Hier verläuft der geheime Pfad, der aus der Dunkelheit herausführt. Gelingt diese „Anbindung“, besteht eine Verbindung über Zeit und Raum hinweg – Anfang und Ende werden ein und dasselbe. Konsequent leiten uns die Symbole zum Wesentlichen, zu Uns, zum Selbst (das „Himmlische/Neue Jerusalem“, die Einheit, der Mittelpunkt der Symmetrie). Was uns von diesem Weg (zu uns selbst) wegführt oder ablenkt, ist „diabolisch“, nicht symbolisch.

Für die Königliche Kunst ist der Weg das Ziel. Wer auf ihrem Pfad wandelt, weiß, dass es nicht im Leben darum geht, das „Spiel des Lebens“ zu gewinnen – es lässt sich nicht gewinnen! Im „Steppenwolf“ von Hermann Hesse gibt der namenlose Schachspieler im magischen Theater die „Anleitung zum Aufbau der Persönlichkeit“. Zuerst lässt er die Einheit der Persönlichkeit im Spiegelbild in viele Ichs zerfallen und wählt daraus die Figuren. Er bringt sie willkürlich auf dem Schachbrett ins Spiel. Aufbaukunst nennt er die „Lebenskunst“ und ändert erneut die Spielpositionen nach seinem freien Willen! Im Leben geht es nie um das Ankommen, denn Ankommen bedeutet Leere. „Leben“ bedeutet: Mit Risiken verbunden zu sein, in der Nebenwirkung liegt die Chance und Transformation ist Garantie.

Entwicklung setzt das Fallen eines Schleiers voraus, das Ende der Illusion: Nur die Ent-Täuschung bringt Erwachen! Heilige Symbole können hierbei helfen. Die heiligen Zeichen ermuntern uns, neue Verbindungen einzugehen (symbolisch) und alte Muster zu lösen (diabolisch). Die Alchemie folgerte daraus ihr Gesetz: „Löse und binde“ (lat. solve et coagula) = das Erkennen des Symbolischen und Diabolischen. Ihre Symbolsprache nannten die Alchemisten die „Grüne Sprache“ (an anderer Stelle auch die „Sprache der Vögel“ [s. „humanität Nr. 1/19“].

Nach Paracelsus (1493–1541) sei die Vollendung der Natur und der Gesellschaft die Aufgabe des Menschen. Das einzige Wesen auf diesem Planeten, das zu eigenem Bewusst-Sein gelangen kann und seine Umwelt entsprechend zu gestalten vermag, ist der Mensch! So verstanden, könnte er durchaus als „Krone der Schöpfung“ gesehen werden. Der Mensch muss aber (erst einmal für sich selbst) in diese Verantwortung gelangen und dann seine Verantwortung als „Mensch“ übernehmen! Die Symbole der Königlichen Kunst helfen, wieder in diese Verantwortung zu kommen. Sie schlagen die Brücke in eine vermeintliche Dunkelheit hinein, auf der wir vertrauensvoll und mit Zuversicht voranschreiten dürfen. Werde, der du bist!

Der Beitrag entstammt der Zeitschrift “HUMANITÄT — Das Deutsche Freimaurermagazin”, Ausgabe 3-2019.