Die Welt scheint immer lauter zu werden. Wir sollen davon unbeirrt sein und unseren Weg gehen, sagt die Freimaurerei. Vorbild waren möglicherweise die Stoiker.
Von Ulrich Felsmann
Ich freue mich, es erst vor Kurzem wieder gehört zu haben: „Unbeirrt vom Lärm der Welt geht der Maurer seinen Weg.“ So spricht der Stuhlmeister in unserem Aufnahmeritual zum Neu aufgenommenen. Der Lärm der Welt – er scheint sich immer mehr zu einem Stakkato zu steigern. Vor manchem, was in der Welt passiert, können wir die Augen verschließen. Das ist sicherlich nicht klug – oder um es deftiger zu sagen (ich bitte dafür um Nachsicht): „Wer den Kopf in den Sand steckt, bringt seinen Arsch in eine gefährliche Position“. Unsere Ohren können wir nicht verschließen, der Lärm der Welt dringt gnadenlos durch: atemlos, abgehackt und immer lauter – so kommt es mir oft vor. Das mag aber auch täuschen, ähnliche Einschätzungen zu gesellschaftlichen Entwicklungen gab es schließlich zu allen Zeiten.
Wie dem auch sei, für mich ist es ein starkes Bild: Unbeirrt vom Lärm der Welt – das vermittelt Stabilität und Bodenständigkeit. In der Antike wurde eine solche Sichtweise von der griechischen Denkschule des Stoizismus beschrieben. Diese Bezeichnung ist abgeleitet von der „Stoa“, einer „Säulenhalle“ auf dem Marktplatz von Athen. Dort soll Zenon von Kition im 3. Jahrhundert v. Chr. sein philosophisches Werk entwickelt haben. Interessanterweise ist von Zenons eigenen Werken nichts erhalten, seine Lehre wurde aus späteren Überlieferungen rekonstruiert. So etwas erzeugt bei mir immer Fragezeichen hinsichtlich der Authentizität, für die Inhalte des Stoizismus ist das aber nicht von Belang.
Der Stoiker hat das Ziel, tugendhaft zu leben und nicht seinen Begierden nachzugeben. Den Wechselfällen des Lebens soll er mit einer souveränen und ruhigen Gelassenheit begegnen, also mit der oft zitierten „stoischen“ Haltung. Der Mensch soll seinen Platz in der Weltordnung erkennen und ausfüllen, er soll emotionale Selbstbeherrschung einüben und sein Los akzeptieren. Wenn das gelingt, ist der Weg frei zu Gelassenheit und Seelenfrieden.
Im 21. Jahrhundert hört es sich etwas befremdlich an: „sein Los akzeptieren“. Das kommt eher nicht vor im Vokabular der modernen Selbstverwirklichung. Dabei war die Stoa in der Antike nicht nur ein unbedeutendes Blitzlicht: über 500 Jahre hat sie großen Einfluss genommen auf das Wirken bedeutender Persönlichkeiten bis zu Marc Aurel, römischer Kaiser und letzter bedeutender Vertreter der jüngeren Stoa. Mit seiner Regierungszeit endete in mancherlei Hinsicht auch eine Phase der Stabilität und Prosperität für das Römische Reich. Sein letztes Lebensjahrzehnt verbrachte Mark Aurel vorwiegend in Feldlagern an der Nordgrenze des Römischen Reiches. Hier verfasste er seine oft zitierten Selbstbetrachtungen. Vieles darin scheint zeitlos gültig zu sein und hat auch heute nichts von seiner Strahlkraft verloren. Ein ganz zentraler Aspekt ist dabei die Einheit von Denken und Handeln, von Wort und Tat. Ob sich das auch so in der Regierungspraxis des Kaisers widerspiegelte, lässt sich zwei Jahrtausende später naturgemäß aber nur noch eingeschränkt beurteilen. Zur Zeit des Marc Aurel war das Christentum noch eine junge Erscheinung, die Stoa dagegen fußte schon auf einer 500-jährigen Geschichte und hat den Kaiser und sein Wirken stark geprägt.
Für den Stoiker gibt es Kardinaltugenden, die von essenzieller Bedeutung sind: Gerechtigkeit, Mut, Selbstbeherrschung und Besonnenheit sowie die daraus erwachsene Weisheit. Gerechtigkeit spiegelt sich in unserem täglichen Leben vielleicht am ehesten im Begriff der
Fairness wider, im anständigen Verhalten und einer ehrlichen Haltung anderen gegenüber. Zum Mut gehört es nicht nur, eigene Ängste zu überwinden und Zivilcourage zu zeigen. Auch eigene Vorurteile sollte man infrage stellen können und sich von besseren Argumenten überzeugen lassen. Selbstbeherrschung und Besonnenheit sind wichtig, um Fehleinschätzungen durch emotionale Reaktionen zu verhindern. Natürlich werden unsere Entscheidungen immer auch von Gefühlen begleitet. Wichtig ist aber, dass wir uns dessen bewusst sind, um daraus resultierende Fehleinschätzungen zu verhindern. Und mit der Weisheit ist natürlich nicht unser Wissen gemeint, sondern eine durch Erfahrung gewonnene Lebensklugheit und innere Reife.
Der Stoiker wird also versuchen, allen Problemen mit Ruhe, Sachlichkeit und Logik zu begegnen und sich nicht in Stress, Wut oder Angst versetzen zu lassen. Ein wichtiger Aspekt dabei ist die Überzeugung von der strengen Kausalität allen Geschehens. Was immer in der Welt und unter Menschen vorkommt, beruht demnach auf einer lückenlosen Kausalkette. Wo diese nicht nachweisbar ist, versagt dann einfach unser Erkenntnisvermögen. Auch das Leben des einzelnen Menschen ist danach durch das Schicksal bestimmt. Sollte er sich gegen diese Vorsehung stellen, ist auch dies selbst durch das Schicksal bestimmt. Dieses Weltbild hat Marc Aurel in seinen Selbstbetrachtungen folgendermaßen zusammengefasst:
„… Alles ist wie durch ein heiliges Band miteinander verflochten. Nahezu nichts ist sich fremd. Alles Geschaffene ist einander beigeordnet und zielt auf die Harmonie derselben Welt. Aus allem zusammengesetzt ist eine Welt vorhanden, ein Gott, alles durchdringend, ein Körperstoff, ein Gesetz, eine Vernunft, allen vernünftigen Wesen gemein, und eine Wahrheit, so wie es auch eine Vollkommenheit für all diese verwandten, derselben Vernunft teilhaftigen Wesen gibt.“ (Selbstbetrachtungen VII, 9)
Ein wesentlicher Bestandteil der Stoa ist also die religionsphilosophische Lehre des Pantheismus: Gott und die Natur werden gleichgesetzt und bilden zusammen den Kosmos. Das Göttliche wird im Aufbau und in der Struktur des Universums gesehen, es existiert in allem und beseelt alle Dinge der Welt, das Göttliche ist identisch mit der Welt.
Wenn das Leben eines Menschen durch ein unabänderliches Schicksal vorherbestimmt ist, stellt sich natürlich die Frage nach unserer individuellen Handlungsfreiheit und moralischen Verantwortlichkeit. Vor allem Menschen, denen ein Mandat übertragen wird, die wir in politische Verantwortung bringen, finden bei Marc Aurel die passenden Antworten: Die Herrscherfunktion wird als eine Schicksalsfügung angenommen und als Verpflichtung zum Dienst am Gemeinwesen und an den Mitmenschen begriffen. Dazu gehört keinesfalls das, was leider so häufig anzutreffen ist: die Überschätzung des eigenen Wirkens und der eigenen Bedeutung. In den Selbstbetrachtungen heißt es dazu: „… Erwäge beständig, dass alles, wie es jetzt ist, auch ehemals war, und dass es immer so sein wird. Stelle dir alle die gleichartigen Schauspiele und Auftritte vor Augen, die du aus deiner eigenen Erfahrung oder aus der Geschichte kennst, zum Beispiel den ganzen Hof Hadrians, den ganzen Hof Antonins, den ganzen Hof Phillips, Alexanders, des Krösus. Überall dasselbe Schauspiel, nur von anderen Personen aufgeführt. (X, 27)“ „… Alexander von Mazedonien und sein Maultiertreiber haben nach ihrem Tode dasselbe Schicksal erfahren. Denn entweder wurden sie in dieselben Lebenskeime der Welt aufgenommen oder der eine wie der andere unter die Atome zerstreut. (VI, 24)“
Ein häufiger Vorwurf gegenüber dem Stoizismus ist: Gleichgültigkeit gegenüber dem Weltgeschehen. Den Menschen würde der Eindruck vermittelt, dass der Einzelne nichts ändern könne und dem Geschehen ausgeliefert sei. Auch in der Renaissance gibt es viel Kritik, zum Beispiel von Michel de Montaigne, französischer Skeptiker, Philosoph und Humanist. Er ist der Stoa zugetan, wendet sich aber von ihr ab, weil er es zum Beispiel für unmenschlich hält, bei Schmerzen keine Regung zu zeigen. Andere werden von der Stoa inspiriert, wie René Descartes und Baruch de Spinoza bei der Entwicklung ihrer Moralphilosophie. Hegel sieht in ihr eine notwendige Etappe der Vernunftentwicklung, und Nietzsche übernimmt von den Stoikern ihre Liebe zum unausweichlichen Schicksal (amor fati), verwirft aber ihren Asketismus. Über zweitausend Jahre lang steht die Stoa zwar nicht im Brennpunkt der Geschichte, sie gerät aber auch nie in Vergessenheit und begegnet uns bei Friedrich dem Großen („Ich will der erste Diener meines Staates sein“) genauso wie bei Immanuel Kant, für den der Glücksbegriff in der Tradition der Stoa steht.
Zu allen Zeiten aber ist Stoizismus der Klassiker in der Krisenphilosophie, Anker und Rettungsring zugleich. In unruhigen Zeiten steigt das Verlangen nach innerer Ruhe. Der stoische Mensch zieht sich auf das einzig Kontrollierbare zurück: das eigene Selbst. Dabei ist es wichtig, auf äußere Ereignisse nicht mit negativen Emotionen zu reagieren. Unsere Handlungsweise soll vielmehr dem Verstand und der Logik folgen, um dadurch Freiheit, Lebensqualität und Glück zu erlangen. Es gilt, Klarheit zu erzeugen und sich auf die Dinge zu konzentrieren, deren Ausgang wir beeinflussen können. Solche Grundsätze sind leider immer weniger anzutreffen. Die Coronaleugner von heute lassen sich davon jedenfalls nicht beeindrucken – sie sind immun … bedauerlicherweise nur gegen Fakten. Doch das schlichte Leugnen einer Coronapandemie lässt diese nicht einfach verschwinden. Spätestens wenn man selbst beatmet werden muss oder nahestehende Menschen verliert, wird deutlich, dass Akzeptanz manchmal der bessere Weg ist.
Der Lärm der Welt ist für mich inzwischen nicht mehr so laut, wie er früher einmal war. Meine Frau behauptet, ich würde immer schlechter hören, und es wäre an der Zeit, mal zum Ohrenarzt zu gehen. Das sehe ich anders, was aber nicht nur ein nettes Wortspiel ist, sondern wahrscheinlich die natürliche Reaktion eines älter werdenden Menschen. Trotz nachlassendem Hörvermögen halte ich viel von einigen Sprüchen, die mich seit Langem begleiten. Da ist unter anderem die Losung der Hansestadt Danzig, die sie seit dem Mittelalter in ihrem Wappen führt: „Nec temere, nec timide„, was so viel bedeutet wie ‚weder unbesonnen noch furchtsam‘. Matthias Claudius, norddeutscher Dichter und Journalist des 18. Jahrhunderts, hat es etwas handfester formuliert: „Greife nicht ins Wespennest, doch wenn du greifst, dann greife fest!“
Vielen Dank für diesen Beitrag, Bruder Ulrich!
Selbst seit über 20 Jahren ein großer Anhänger der Stoa, hat mich das umso mehr gefreut, dass auch andere diese Parallelen zu einer der wichtigsten philosophischen Schulen der Antike sehen.
Herzliche Grüße,
Bruder Sebastian
Zum Tempel der Freundschaft
Zu umfangreich
Wer mehr zur Stoa lesen will, dies ist aus meiner Sicht eine gute Adresse im Internet: https://www.stoa-heute.de/
Ich glaube viele Inspirationen kommen aus der Stoa, die aus meiner Sicht auch noch nicht mit Marcus Aurelius endet.
Lieber Bruder Ulrich.
Mit großem Interesse habe ich den Artikel gelesen.
Stoiker zu sein, erscheint mir ein wirklich erstrebenswertes Ziel zu sein.
In einigen Definitionen habe ich mich zwar selbst ein wenig erkannt, muss aber auch erkennen, dass noch viel zu tun ist.
Mit brüderlichem Gruß
Günter. F.Schmitz
Lodge Niederrhein Nr.892
Lodge of British Free-masons
Düsseldorf