Fundamentalismus gab es „immer“. Zwar nicht in der Begrifflichkeit von heute. Wohl aber in der Erscheinungsform. „Fundamentalismus“ äußert sich nämlich immer dann, wenn subjektive Wahrheiten für absolute Wahrheiten ausgegeben werden.
Von Jens Oberheide
Es gab immer politische und religiöse Standpunkte, die mit unverrückbaren, gleichsam „fundamentierten“ Wahrheiten angetreten sind. Zumindest haben Staaten, Ideologien, Wirtschaftssysteme oder Religionen solche „Wahrheiten“ behauptet. Sie hatten die Macht. Und wer die Macht hat, der kann „freie Geister“ nicht gebrauchen.
„Freie Geister“ hat es natürlich auch immer gegeben. Und die meisten, von Märtyrern bis hin zu liberalen Denkern, haben für Meinungs- und Redefreiheit harte Gegnerschaft riskiert und manchmal sogar ihr Leben. Der Versuch, gehört zu werden, scheiterte überwiegend ebenso an strengen Machtverhältnissen, wie der Gedanke, sich etwa zu organisieren. Dass dieses vor 300 Jahren mit der „Idee Freimaurerei“ funktioniert hat, ist eigentlich erstaunlich. Dass sich allerdings eine derart liberale Idee nicht immer und schon gar nicht überall durchhalten ließ, zeigt die Geschichte von Verbot, Verleumdung und Verfolgung.
Warum das so ist, kann man in Geschichtsbüchern nachlesen. Die erzählen nämlich mehr über Macht als über Geist.
Die aktuelle Weltwirklichkeit kommt mir wie eine Fortsetzungsgeschichte vor, in der sich „Macht“ als „Geist“ verkleidet und in der ein billiger Populismus zwischen diversen Wahrheiten und bunten Fake News jongliert. Richtig schlimm wird das erst, wenn die Adressaten solcher Botschaften gleichgültig werden oder alles als modernistische Spielarten verharmlosen. Wo ist die seriöse Mittellinie?
Heute kommen uns beim „Fundamentalismus“ oft radikale Positionen in den Sinn, die Politik und Religion miteinander verknüpfen. Und da denken wir an deren offenbar kritiklose Rezeption vorgeblich heiliger Texte und an militante Ausprägung bis hin zum Terrorismus und zum sogenannten „Heiligen Krieg“. Wenn es darum geht, religiöse Auslegungen auch politisch durchzusetzen, beobachten wir verschreckt das Ausmaß von Intoleranz und Hass. Wenn jemand kompromisslos an politischen oder religiösen Grundsätzen festhält und diese oft rigoros und offensiv gegen jede Form von Liberalität, Relativität, Indifferenz oder Skeptizismus richtet, dann richtet sich das auch gegen demokratische Lebensformen und manchmal auch gegen elementare Menschenrechte.
Zugegeben: Ein Gegenentwurf zu dieser Realität steht, wenn man ihn nicht pauschal mit „Demokratie“ benennt, auf idealistischen Füßen. Nur „freie Geister“ können ihn denken und „leben“, und sich im Zweifel auch wehren. Sie benötigen dafür ein Umfeld, in dem man sich frei entfalten kann und sich ungehindert artikulieren darf. Wir erleben in unseren Tagen wieder einmal, dass dieses nicht überall möglich ist und dass manch freier Geist in Unfreiheit verstummt.
Das Zeitalter der Aufklärung, in dem die Freimaurerei historisch zu positionieren ist, war begleitet von Idealismus, vom guten Willen, vernunftbegründeter Ethik, aber eben von der bitteren Erfahrung des Versagens angesichts der Zustände in der Weltwirklichkeit.
Müssen wir heute wieder an dieses Szenario anknüpfen? Stehen wir wieder am Anfang einer neuen „Aufklärung“? Damals wie heute ging es doch eigentlich „nur“ um ein ganz schlichtes Anliegen: das bessere Miteinander für eine bessere Welt. Es scheint so, als ob dieses das schwierigste Unterfangen überhaupt ist. Dabei beginnt es bei mir und bei dir. Und vor der eigenen Haustür.
Ein Blick in die Geschichte. Noch im 18. Jahrhundert, gab es überall in Europa ideologische, religiöse, wirtschaftliche und gesellschaftliche Formen, die man im Wortsinn als „fundamental“ bezeichnen kann. Das Wortbild „Fundament“ bedeutet ja zunächst nichts anderes, als Grund, Grundfeste, Grundlage. „Fundamentalismus“, hat kürzlich ein Theologe gesagt (Pastor Wolfgang Buck aus Extertal), „ist die Angst, das Fundament zu verlieren.“ Der Fundamentalist hält mit aller Kraft daran fest, vorrangig dann, wenn ein anderer am Fundament zweifelt, die Standfestigkeit infrage stellt oder vielleicht sogar Fundamente ins Wanken bringt.
Die Geschichte kennt viele Fundamente, die mit Macht und Gewalt behauptet wurden. Dann beispielsweise, wenn weltliche und kirchliche Fürsten „Macht“ besaßen. Das war eine Macht, die meist ohne Einschränkung funktionierte. Was die Herrschenden sagten und taten, war „gültig“. Die oft mit unbeschränkter Machtfülle Regierenden dachten größtenteils gar nicht daran, ihre Normen, Meinungen und Befehle zu begründen oder sich etwa zu rechtfertigen. Widerspruch war nicht erlaubt. Um die ganze Dimension anzusprechen, will ich einen „Heiligen“ zitieren. Ignatius von Loyola (1491-1556): „Wenn etwas in unseren Augen weiß erscheint, aber die Autorität der Kirche es als Schwarz definiert, so müssen wir ohne jeden Zweifel bejahen, dass es schwarz und sicher schwarz ist.“
In Frankreich war Ludwig XIV. bis 1715 insgesamt 72 Regierungsjahre lang der Inbegriff des Absolutismus. Das kennzeichnende Wort „L’état c’est moi“ – der Staat bin ich – stammt vermutlich nicht vom Sonnenkönig selbst, es hängt ihm aber bezeichnenderweise an, weil er es so verstand und so verkörperte. Die Kleinstaaterei in Mitteleuropa hat viele kleine Ludwigs hervorgebracht, die sich und ihren Führungsstil fundamental verstanden und interpretierten.
Müssen wir nicht heute wieder an kleine Ludwigs denken? Und an solche, die sich selbst „groß“ reden?
Die Geschichte lehrt uns: Nahezu alle Machtinhaber verfolgten auch dezidiert eigene dynastische Ziele. Sie dachten (und denken!) gar nicht daran, ihre Fundamente im Sinne des großen Ganzen preiszugeben, so, dass auch andere darauf Platz gehabt hätten. Über die Platzvergabe entschied oft ein gehobener oder gesenkter Daumen.
Die christlichen Kirchen begründeten ihren Fundamentalismus mit einem allmächtigen Gott, der das Universum geschaffen hat und den Lauf der Dinge beeinflusst. Demzufolge hat der Mensch keine Chance zum eigenen Denken der Zusammenhänge. Manchmal unterwirft sich auch ein „freier Geist“ freiwillig. Gedankenfreiheit ist ohnehin nicht hörbar.
Die Autorität der Kirche berief sich auf die Autorität der Bibel, und alles, was solche Fundamente auch nur antastete, war jahrhundertelang Verrat am Grundverständnis des Glaubens. Hinzu kam missionarischer Eifer, der das Bibelwort „Gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker …“ als Kreuzzug gründlich missverstanden hat. Auch heutige Missionare aus anderen Kulturkreisen haben einen „Gottesstaat“ im Sinn. Damals wie heute ging es um den vorgeblich einzigen wahren Glauben, und wer ihn nicht hatte, war „im Irrtum“.
Glücklicherweise dürfen wir hierzulande „frei“ relativ sein von religiösen Zwängen. Wir müssen und dürfen Glaubensfragen mit uns selbst austragen. Heutzutage ist das offene atheistische Bekenntnis ebenso möglich, wie das redliche Bemühen um gelebte Religiosität und Spiritualität. Auch die Konfessionen öffnen sich, argumentieren und interpretieren. Und, in Europa ebenfalls weitverbreitet: eine Trennung von Staat und Kirche. In einer funktionierenden Demokratie funktioniert auch gegenseitiger Respekt.
Früher funktionierten Staat und Kirche über ein Machtbündnis. Was dem einen das Grundverständnis des Glaubens war, das war für den anderen die Realität des Herrschens, die auf das Prinzip des Gehorchens traf. Beide, die kirchlichen und die weltlichen Machtinhaber sind Co-Autoren des gültigen Weltbildes der damaligen Zeit. Beide haben es für verbindlich erklärt. Wer das so nicht akzeptierte, bekam große Probleme. Giordano Bruno, René Descartes, Galilei und viele andere mehr bekamen das schon früh zu spüren.
Anfang des 18. Jahrhunderts sorgte in Mitteleuropa neben der Feudalherrschaft noch eine straffe Ständeordnung für feste Hierarchien. Der Merkantilismus wirtschaftete unverhohlen in die eigenen Taschen. Die Monarchen betrachteten alles, auch die Menschen und das, was diese produzierten, als ihr persönliches Eigentum. Die Kirchen konnten einer abhängigen und unmündigen Bevölkerung einreden, deren Schicksal sei gottgewollt. Ergeben sollten sie aufs Jenseits hoffen und die Hölle fürchten. Ansonsten fleißig arbeiten, widerspruchslos dem Fürsten dienen, kräftig Steuern zahlen und den Heldentod in einem der zahlreichen Kriege sterben.
Ja, es gab (und gibt) viele fundamentale Hoheitsgebiete in der Weltgeschichte. Von „Absolutismus“ bis „Apartheid“. Sie gaben sich „diktatorisch“, „allein seligmachend“, „arisch“ oder „rassisch“. Sie alle lebten von Selbstverständnissen und von Tatsachenbehauptungen, die nach Auffassung ihrer Verfechter keinen Beweis benötigten, und wenn doch, einen manipulierten als Alibi.
Heute erleben wir die Wiedergeburt des Absoluten und des Manipulierten.
Anfang des 18. Jahrhunderts haben die freien Denker in den jungen Freimaurerlogen Idealbilder gegen diese Weltwirklichkeit projiziert. Sie taten das mit Symbolen aus der Welt des Bauens. Man muss sich vor Augen halten, was es Anfang des 18. Jahrhunderts bedeutete, sich auf einer Ebene – dem Symbol der Bleiwaage oder Winkelwaage – zu treffen. Das hieß doch: sich frei machen von der Abhängigkeit von Hierarchien, die damals übermächtig waren.
Den symbolischen „Rauen Stein“ bearbeiten, ihm eine neue Form geben, das hieß doch: die eigene schöpferische Kraft entdecken. Selbst die Geschicke in die Hand nehmen, selbst Zeit und Raum planen, bauen und gestalten.
Freimaurerei war angetreten als Idee des sinnvollen Bauens und Gestaltens von Zeit und Raum. Was die Vorväter in den Bauhütten praktisch getan hatten, nämlich Räume zu planen und zu gestalten, das versuchte man nun, mit Lebensräumen zu tun und auf dem Weg zur Selbstfindung und Sinnsuche die Zeit mit Weisheit einzuteilen.
Das alles entsprach so ganz den Ideen, die Kant später als „Aufklärung“ definierte, nämlich der „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“. Die Freimaurerei hat schon in ihrer Gründungsphase den mündigen Menschen gemeint, und nichts anderes meint sie heute.
Die Befreiung aus vielfältigen gesellschaftlichen, politischen und geistigen Zwängen kennzeichnet die frühe Entwicklung der Freimaurerei. Hier war keine einengende Ideologie, sondern eine befreiende Lebensart gemeint. Das ließ sich zur Selbstverwirklichung umdenken, wirkte aber nach außen auch gesellschaftskritisch grenzüberschreitend und galt nahezu stellvertretend als Aufbegehren gegen Zwänge.
So besehen konnte man Freimaurerei als Provokation verstehen, die gegen diese fundamentalen Zwänge Mündigkeit setzte, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit meinte.
Freimaurerei hat solche Wesensinhalte niemals als Gruppe im Sinne von Partei oder etwa Kampfbund vertreten, sondern sich immer nur als Symbolbund, als Wertegemeinschaft, als Geisteshaltung und Lebensform Einzelner verstanden. Dennoch hat die Freimaurerei – einfach durch ihr Da-Sein, durch ihr liberales Symbol- und Wertesystem – von Anfang an gegen mächtige Hierarchien gestanden und ist von diesen stets beargwöhnt worden. Bis heute wird sie – sozusagen folgerichtig – in den meisten totalitären Staaten der Welt misstrauisch auf Distanz gehalten oder verboten, und alle absoluten Religionen der Welt halten sie für unvereinbar mit ihrem Glaubensanspruch.
Wer Macht besitzt, rechtfertigt sich selbst. Macht ist essenziell intolerant, während die Toleranz ebenso essenziell zur Grundhaltung „freier Geister“ gehört. Das polarisiert gewissermaßen durch ihr jeweiliges Selbstverständnis.
Die „Freien Geister“, von denen ich hier spreche, müssen natürlich nicht Freimaurer heißen. Man trifft sie in allen Lebenskreisen. Überall gibt es freie Denker und tolerante Menschen, deren Anliegen Versöhnen, Verständigung und Nächstenliebe ist, das, was früher „Brüderlichkeit“ hieß. Soziodemografisch sind sie schwer auszumachen, und demokratische Wahlen sehen zurzeit eher vereinfachende Populisten im Trend.
Ziemlich am Anfang der modernen Freimaurerei, die sich 1717 zur ersten Großloge zusammenschloss, standen die sogenannten „Alten Pflichten“ von 1723, noch heute so eine Art Grundgesetz der Freimaurerei. Weil es für unser Thema von grundlegender Bedeutung ist, nicht nur für uns!, zitiere ich aus dem Kapitel I. „Von Gott und der Religion“ eine Textpassage, die sich auch an jeden liberalen Denker allgemein wenden könnte. Demnach sei dieser nur (Zitat):
„… verpflichtet, dem Sittengesetz zu gehorchen; und wenn er die Kunst recht versteht, wird er weder ein engstirniger Gottesleugner, noch ein bindungsloser Freigeist sein.“ Und dann heißt es, dass man zwar früher verpflichtet war, „ … der Religion anzugehören, die in ihrem Lande oder Volke galt, heute jedoch hält man es für ratsamer, sie nur zu der Religion zu verpflichten, in der alle Menschen übereinstimmen und jedem seine besonderen Überzeugungen selbst zu belassen.“
Das ist ein kühner Ansatz. Vor 300 Jahren gab es weder eine Ethik noch eine Welt. Es gab nur das, was die unterschiedlichen Religionen der Welt an Unterschiedlichem zum Sittlichen sagten, was die jeweiligen Behörden zum Sittlichen regelten und das, was freie Geister grenzüberschreitend zu denken wagten.
Das ist wohl immer noch so.
Nun ist das „Sittengesetz“ kein Gesetz als solches, keine ausformulierte Norm, sondern nur ein Ausdruck dessen, was die Menschen als sittengemäß – als „anständig“ – empfinden. Gemeint ist hier eine Art Lebensstil, nämlich den Vorsatz, sittlich und moralisch so anständig wie möglich zu agieren. Jeder nach seinen Weltsichten, Mitteln und Möglichkeiten. Und unter möglichst feinsinniger Rücksichtnahme auf den Wertekanon anderer Kulturen und Weltanschauungen. Das ist eine im Diesseits mündig zu lösende Aufgabe. Jeder ist damit herausgefordert. Sozusagen tagtäglich.
Aber wo ist die Mündigkeit geblieben? Wo sind die „freien Geister“? Überrollt uns wieder eine Weltwirklichkeit mit Plattitüden und grober Keule? Und wieder mit der Pflicht zur Disziplin und zum unbedingten Gehorsam für einen Teil der Wirklichkeit, mit Front gegen den anderen Teil der Wirklichkeit, der sich demokratisch eingerichtet und ausgerichtet hat?
Was passiert? Resignation? Ohnmacht? Inwieweit lässt man sich vereinnahmen, beispielsweise von einer „Staatsreligion“? Und inwieweit verpflichtet diese zu Konfrontation, Missachtung anderer, Hass?
Das ist hochpolitisch und hochbrisant. Gotthold Ephraim Lessing interpretiert (in Ernst und Falk“), es gelte, „…den Vorurteilen der angeborenen Religion nicht zu unterliegen und nicht zu glauben, dass alles gut und wahr ist, was man für gut und wahr hält“.
Er sagt, alle Erkenntnis, also auch die religiöse, kann, genau besehen, nur relativ sein, das heißt, nur für einen bestimmten Standpunkt gültig, aber niemals absolut für „alle“. „Ich glaube“, das heißt nicht: „Ich weiß“. Die absolute Wahrheit hat niemand, auch der nicht, der den Glauben als Wahrheit verkauft.
Darf man Religionen auf das Symbol der Waage stellen, der gleichen Ebene aller? Damit wäre nicht mehr, aber auch nicht weniger gemeint als eine Gleichberechtigung aller Religionen und Weltanschauungen. Das wäre „Ökumene“ im Ursprungssinn: „die ganze bewohnte Welt“. Alle Religionen sollten gleich wahr oder gleich falsch sein dürfen? Weiß ich denn, was „wahr“ ist? Lessing sagt das treffend:
„Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit hielte, und in der Linken nur das ewige Suchen nach Wahrheit, ich fiele ihm bescheidentlich in die Linke, denn die volle Wahrheit ist doch nur für Gott allein.“
Hier geht es um die immerwährende Suche nach Wahrheit. Natürlich gibt es keine „Religion, in der alle Menschen übereinstimmen“. Aber die zentrale Idee jeglicher Religion, eine Gottesvorstellung nämlich, muss Spielraum haben für die verschiedensten Ausdeutungen dieses Begriffs. Das geht vom „schöpferischen Prinzip“ bis zur personalen Gottesvorstellung. Noch einmal Lessing. Er sagt, die Freimaurerei wolle den „nationalen und kirchlichen Einzelausprägungen“ nicht „Abbruch tun, nur ihre Gefahren bannen. Alles, was Menschen verbindet, wird zugleich zur Ursache der Trennung. Die Freimaurerei sucht daher die Religion, in der alle Menschen übereinstimmen, und diese ist die Moral.“
Das ist die Moral, so anständig wie möglich miteinander umzugehen und die Mitverantwortung für die Welt und deren Zustand zu übernehmen. Der Glaube bleibt eine intime, persönliche Angelegenheit, die man natürlich mit einer Gruppe teilen kann. Wer jedem seine „besondere Überzeugung“ belässt, der toleriert damit ausdrücklich Meinung, Weltanschauung oder Glauben des anderen und erklärt, dass er sie nicht antastet.
Nun gibt es aber auch Gläubige, die einer „Staatsreligion“ verpflichtet sind oder die am Dogma einer allein seligmachenden Kirche hängen. Was ist mit denen?
Wäre das dann ebenfalls im Wortsinn der „Alten Pflichten“ eine „persönliche Überzeugung“ ? Kann jemand, der an einem Dogma hängt, sich also vielleicht im Besitz der alleinigen Wahrheit wähnt, den Andersdenkenden/Andersglaubenden tolerieren? Lennhoff/Posner sagen im „Internationalen Freimaurer Lexikon“: „Die Freimaurerei kennt keine Dogmen, nimmt aber die Anhänger der verschiedensten religiösen, politischen und nationalen Dogmen auf, sofern sie sich der Pflicht der Toleranz unterwerfen.“
Das ist der Kernpunkt. Die Verpflichtung zur Toleranz. Die widerspricht jeder Form von Fundamentalismus. Sie respektiert jedoch gleichzeitig fundamentale Positionen, wenn diese nicht die Grenzen der Toleranz überschreiten. Bei einem Selbstmordattentäter ist etwa seine Tat zu verurteilen, seine Motive müssen uns aber berühren und das, was ihn ideologisch treibt, muss uns betroffen machen. Was er glaubt, darf uns nichts angehen. Auch dann nicht, wenn er das streng dogmatisch tut. Er darf das nur nicht militant-missionarisch gegen Andersdenkende und Andersglaubende richten. Weil das so ist, könnte man auch schamvoll die christlich motivierten Kreuzzüge als frühes Lehrstück dafür betrachten, wie man es nicht machen darf.
Wir sollten übrigens Toleranz lediglich als „Umgangsregel“ verstehen. Wir dürfen nicht Gefahr laufen, Toleranz zum fundamentalen Muss zu machen.
Wertevorstellungen sind natürlich auch abhängig vom kulturellen Umfeld.
Noch Mitte des 18. Jahrhunderts hielt der Präsident der Vereinigten Staaten, Thomas Jefferson (1743-1826), das Recht zu leben, die Freiheit und das Streben nach Glück für „selbstverständlich“. Nach seiner Auffassung waren das universelle Werte der Menschheit. Das war und ist auch heute gar nicht so „selbstverständlich“ etwa für „Angehörige einer anderen Kultur, wie für einen radikalen Moslem, der der Auffassung ist, dass gerade das Streben nach Glück charakteristisch für einen Ungläubigen ist.“ (Thomas Cathcart/Daniel Klein: „Platon und Schnabeltier“, Goldmann,2010). Solange er das denkt, muss man ihn lassen. Aber natürlich darf er deswegen den „Ungläubigen“ nicht umbringen. Sinnbildlich hört die Toleranz schon beim bloßen Säbelrasseln auf. Der Minimalkonsens ethischer Gemeinsamkeiten über alle Kulturschranken hinweg ist, wie man an diesem Beispiel sieht, sehr, sehr bescheiden. Auch die Grenzen sind weit gesteckt, aber es gibt sie.
Tolerieren müssten eigentlich alle Religionen und alle Kulturen ökumenische Grundkriterien, die alle Menschen betreffen und nach denen alle Menschen handeln sollten. Bei dem Versuch, einen ethischen Minimalkonsens zu finden, haben die Vertreter aller Weltreligionen in ihrer Chicagoer Erklärung von 1993 ermittelt, was alle Kulturen und alle Religionen unterschreiben:
1. Jeder Mensch muss menschlich behandelt werden.
2. Wir müssen andere behandeln, wie wir von anderen behandelt werden wollen.
Es sähe besser aus in der Welt, wenn diese elementaren Voraussetzungen des Miteinanders auch die Fundamentalisten unserer Tage erreichten. Die weitverbreitete Ignoranz der humanen Grundwerte führt jedoch noch immer zu Fremdheit, Unterdrückung, Misstrauen, Vorurteil, Hass, ja, letztlich auch zu Kalten Kriegen und heißen Schlachten.
Die schöne Theorie des harmonischen Miteinanders im gegenseitigen Respekt hat noch weitere gemeinsame Wertvorstellungen. Die Gebote „Nicht töten“, „Nicht stehlen“, „Nicht lügen“ gelten beispielsweise in allen Religionen und allen Kulturkreisen. Und sie stehen in sämtlichen Gesetzeswerken aller freiheitlichen Verfassungen der Welt.
Wer dagegen verstößt, der tut das also nicht nur im humanen Sinn, er verletzt die Grenzen der Toleranz und er verstößt auch im juristischen Sinn. Dennoch: Man tötet, man stiehlt, man lügt. Das war damals so, und das ist auch heute so.
Unbeirrt sollten wir dennoch alle immer wieder vom Konjunktiv ausgehen, es müsste eigentlich ein Konsens gefunden werden, über alle Kulturen, Religionen und Nationen hinweg. Man müsste sich eigentlich auf gemeinsame Werte verständigen können. Es gelte, ein gemeinsames ethisches Fundament zu finden, tragfähig für alle. Man sollte zu einer Kultur der Gewaltlosigkeit, Friedfertigkeit, Brüderlichkeit und Ehrfurcht vor dem Leben übergehen. In diesem Sinne ist Freimaurerei gewissermaßen definiert über den Dingen. Überstaatlich, das heißt: über nationale Grenzen hinweg. Überparteilich, das heißt: neutral über den Parteien. Überkonfessionell, das heißt: unabhängig, nicht konfessionell gebunden. Damit sich jeder bei uns wiederfinden kann. Denn das meint, wie in den Alten Pflichten angesprochen, keinesfalls den bindungslosen Freigeist. Es meint, dass wir in der Freimaurerei jedem seine besonderen Überzeugungen belassen, um noch einmal die Alten Pflichten zu zitieren. Darum positioniert sich die Freimaurerei über den Dingen, um offen zu sein für die große Bandbreite von Denken und Glauben und gleichzeitig für das Alles-Verbindende. Innerhalb dieser gedachten Offenheit kann es auch dogmatische Positionen geben, nicht jedoch deren Fanatismus und schon gar nicht einen Militarismus, der sich auf Dogmen beruft. Zum friedvoll toleranten Miteinander und Füreinander von Kulturen können jedoch strenggläubige Muslime ebenso selbstverständlich beitragen wie katholisch Orthodoxe.
Diese Vision des Alles-Verbindenden ohne soziale, religiöse oder politische Bewertungen steckt in dem freimaurerischen Symbol der Winkelwaage, der gleichen Ebene aller, auf der wir uns begegnen.
Es ist sicher so, dass die Gründerväter Anfang des 18. Jahrhunderts noch nicht so scharfsinnig definierten, es ist aber auch bemerkenswert, wie feinsinnig sie hochpolitischen und hochbrisanten Themen bereits jene Richtung gaben, die wir heute noch als Leitlinien betrachten dürfen.
Gewiss, sie sind nicht erklärtermaßen gegen den Fundamentalismus angetreten, haben aber doch dessen vielfältigen Erscheinungsweisen wenigstens ansprechbar gemacht. Und sie haben gegen Dogmen wenigstens Skepsis gesetzt, sie dennoch als individuelle Sichtweisen respektiert. Sie haben versucht, philanthropisch, altruistisch, kosmopolitisch zu denken und zu handeln. Damit standen sie gegen die polare Entsprechung der Weltwirklichkeit, die sich menschenfeindlich, egoistisch, ja, militant und nationalistisch äußerte.
Immer wenn Lessing in „Ernst und Falk“ freimaurerische Positionen erläutert, beginnt er mit „recht sehr zu wünschen“.
„Recht sehr zu wünschen“, denn das Richtfest unseres imaginären Tempelbaus der Menschlichkeit werden wir nicht erleben. Freimaurerei bleibt eine immerwährende Großbaustelle, wie die unruhige Welt um uns herum. Und wir bleiben hoffentlich unentmutigt Idealisten.