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Von der Notwendigkeit, fehlerhaft zu sein

© Rob Goebel /stock.adobe.com

Von Stefan Nißen

Nach langer Pause finden wir uns in brüderlicher Eintracht wieder in unserem Tempel ein. Und ein besonderes Gefühl durchströmt mich, wenn der zweite Schaffner endlich wieder die Worte spricht: „Ich bitte, sich maurerisch zu kleiden und sich auf eine Tempelarbeit vorzubereiten.“

Wir setzen das Bijou an, wir streifen die Handschuhe über, manche von uns setzen den hohen Hut auf und wir legen den Schurz an. Jeder Teil der Bekleidung hat dabei — neben zierenden Elementen — auch einen symbolischen Charakter. Ein wichtiger Teil, der auch direkt ins Auge fällt, ist der Schurz. Der Schurz ist Teil der Bekleidung aller Freimaurer weltweit und symbolisiert die Arbeit, der wir während unserer geselligen Abende nachgehen. Er entstammt dem schützenden Steinmetz-Bekleidungsstück der Dombauhütten und wir Freimaurer verstehen ihn auch als ein Andenken an unsere Ursprünge in der Handwerks- und Baukunst. Auch wenn unsere maurerische Arbeit heute hauptsächlich symbolischen Charakter hat, so ist sie dennoch mit sorgfältig gewählten Gleichnissen aus der Dombau-Zeit durchsetzt.

Der Schurz zum Beispiel soll uns daran erinnern, dass unsere Arbeit, auch wenn sie heute vielmehr im Geiste als mit dem Körper vollbracht wird, eine herausfordernde Arbeit ist, die gewissenhaft ausgeführt werden muss, damit der Bau gelingen möge. Er versinnbildlicht die harte Arbeit am rauen Stein genauso wie den Zusammenschluss in einer Bruderschaft, der sich nicht nur auf geistiger Ebene vollzieht, sondern auch physisch. Zum Beispiel, wenn sich die Brüder vor dem Tempel herzlich begrüßen, im Tempel Hand in Hand tief verbunden in der Kette stehen oder sich nach getaner Arbeit lobend auf die Schulter klopfen.

Ein würdevolles Symbol des Zusammenhalts

Anhand seines Schurzes gibt ein jeder Freimaurer auch seinen maurerischen Erfahrungsgrad den Brüdern gegenüber zu erkennen. Man muss dabei aber bedenken, dass der Schurz keineswegs ein Zeichen der Abgrenzung ist, das wäre eine fatale Fehlinterpretation. Sondern er ist ein Zeichen der Ehre, ein würdevolles Symbol des Zusammenhalts. Wer ihn anlegt, ist sich bewusst, dass alle Arbeiten stets mit der entsprechenden Sorgfalt und Perfektion auszuführen sind. Ob nun im Grad des Lehrlings, des Gesellen oder des Meisters. So bezeichnen wir nicht ohne Grund einen Menschen, der zwar im freimaurerischen Sinne denkt und handelt, der aber nicht unserem Bunde angehört, als „Maurer ohne Schurz“. Wir sprechen nicht etwa vom „Maurer ohne Handschuh“ oder „Maurer ohne hohen Hut“ – sondern wohl bedacht vom „Maurer ohne Schurz“, weil dieser als unverzichtbares Symbol im Zentrum unseres Handelns steht.
Denken wir nun kurz zurück an die Ursprünge unseres Bruderbundes. In den Dombauhütten diente der Schurz als ein mechanischer Schutz des Steinmetzes während der praktischen Arbeit. Klar, denn wo gehobelt wird, da fallen Späne. Doch wovor soll er uns nun bei der spekulativen und symbolischen Arbeit im Tempel schützen? Der symbolische Schurz soll uns Brüder daran erinnern, dass trotz aller Perfektion und Vorsicht auch bei der Arbeit am rauen Stein und beim Bau des Tempels der Humanität stets mit Fehlschlägen, mit Verletzungen durch Steinsplitter zu rechnen ist! Soll also der Schurz, damals ein mechanischer Schutz vor physischen Verletzungen, nun ein Symbol des geistigen, des psychischen Schutzes sein? Die Erfahrung lehrt uns, es gibt keinen hundertprozentigen Schutz und das ist auch gut so. Schließlich würden wir sonst nicht mit der nötigen Vorsicht vorgehen, wenn unser Handeln keine negativen Folgen haben könnte – wenn wir zu keiner Zeit einen Schaden zu erwarten hätten. Dass ein Schaden eintreten kann, nötigt uns zu vorausschauendem Handeln und zur sorgfältigen Planung unserer nächsten Schritte. Nein, der Schurz ist vielmehr eine Erinnerung daran, dass wo Neues und Unbekanntes gewagt oder gedacht wird, nicht immer alles nach Plan verläuft, nicht immer alles auf Anhieb gelingt und sich so manche gut gemeinte Idee im Nachhinein auch als ein Fehler entpuppen kann.
Wir fürchten uns vor unserer eigenen Unvollkommenheit

Fehler … mit Adleraugen entdeckt der Mensch die Fehler anderer, mit Maulwurfsaugen übersieht er seine eigenen. Wem von uns ist nicht schon ein Fehler unterlaufen, für den er sich im Anschluss schlecht gefühlt hat, sich geschämt hat für die Eselei, die ihm widerfahren ist? Doch warum eigentlich fühlen wir uns in einer solchen Situation so? Warum schämen wir uns dafür, dass ausgerechnet uns dieser Fehler unterlaufen ist?
Wir alle kennen von klein auf den berüchtigten Satz in den verschiedensten Variationen: „Da hast Du einen Fehler gemacht.“ Wir werden mit dem Vorwurf der Unvollkommenheit konfrontiert. Wir haben einen Makel, und den meisten Menschen ist nichts so unangenehm, wie offen und für alle erkennbar einen Makel zu tragen. Wir denken, wir sind den Anforderungen, die an uns gestellt werden, nicht gerecht geworden, und manche fürchten nun, von der Gesellschaft und den Mitmenschen dafür verachtet zu werden. Ein Umstand, der aus dem fehlerhaften Umgang mit Fehlern in unserer Gesellschaft folgt. Es herrscht eine allgemeine Fehlerintoleranz. Selbst wenn unsere Eltern bewusst oder unbewusst hervorragende Pädagogen waren und es vermieden haben, uns unser Versagen permanent vorzuhalten — spätestens in der Schule konnten wir uns anhand der Zeugnisse unsere eigenen Unzulänglichkeiten vor Augen führen, wurden auf Fehler aufmerksam gemacht und für ihr Begehen in Form von schlechten Noten getadelt. Aber: Der Vorwurf, man habe einen Fehler gemacht, bedingt einen Vorsatz — eine bewusste, absichtsvolle Handlung. Nur – haben wir wirklich jemals absichtsvoll und vorsätzlich einen Fehler begangen? Ich behaupte nein. Tatsache ist — und sprachlich kommt es zum Ausdruck: Fehler passieren uns, sie widerfahren und unterlaufen uns in den verschiedensten Zusammenhängen.

Nicht fehlerhaft mit Fehlern umgehen!

Was ist hier also geschehen? Wir haben die Bedeutung der beiden Worte „machen“ und „passieren“ durcheinandergebracht — sie ihrer ursprünglichen Bedeutung beraubt. Eines ist sicherlich klar: Es gibt Fehler. Machen können wir sie jedoch nicht. Wir können keine Fehler machen. Kein Mensch kann Fehler machen. Und wenn wir eine Handlung mit Absicht vollziehen, können wir ebensowenig davon sprechen, einen Fehler gemacht zu haben.
Ein paar Beispiele: Ein bewusster Sprung aus dem fünften Stock ist kein Fehler, das ist Suizid. Wenn wir mit dem Auto bewusst und absichtlich gegen ein anderes fahren, ist das kein Fehler, sondern Versicherungsbetrug. Wenn ein Ingenieur mit Absicht einen Zahlendreher in die Kalkulation einbaut, dann ist das kein Fehler, sondern Sabotage.

Eine Situation ist danach zu bewerten, ob sie durch ein Versehen, jedoch in bester Absicht, entstanden oder vorsätzlich herbeigeführt worden ist. Wir verfolgen mit unserem Handeln zumeist eine positive Absicht. Entweder für uns selbst und/oder für andere. Gelegentlich kann sich das Handeln als nicht vorteilhaft für uns und andere herausstellen, sodass wir von einem Fehler sprechen. Gemacht haben wir jedoch keine Fehler, weil wir anderen Menschen normalerweise nicht — jedenfalls nicht bewusst — schaden wollen. Falls doch, wäre dies eben kein Fehler, sondern eine absichtsvolle, einen anderen Menschen schädigende Handlung. Das wäre mindestens schäbig, vielleicht sogar strafbar.

Fehler sind aber nicht allzu selten auch die Saat für neue Erkenntnisse und damit etwas Gutes, ja ich behaupte etwas Notwendiges, um die menschliche Entwicklung und damit den Tempelbau der Humanität voranzutreiben. Wirklich innovative Ideen benötigen den Willen, auch Risiken auf sich zu nehmen und die Tatsache zu akzeptieren, dass Fehler das Tor zum Fortschritt aufstoßen können. In meinem Beruf habe ich gelernt: Wir entdecken oft das Funktionierende, indem wir herausfinden, was nicht funktioniert. Und wahrscheinlich entdeckte derjenige nichts, der nie einen Fehler beging. Forschung und Entwicklung zum Beispiel ist kein geradliniger Marsch zur Wahrheit, sondern entspricht einem Zickzacklauf, der Versuch und Irrtum einschließt.

Fehler gehören zu unserer Arbeit genauso dazu, wie die Erfolge, die wir im Leben feiern. Oftmals gehen sie den Erfolgen nur einfach ein paar Schritte voraus und so lernen wir aus unseren Fehlern, bereiten sie uns doch auf den später eintretenden Erfolg vor. Sie erinnern uns daran, dass wirkliche Erfolge nicht ohne Widerstand und das Überwinden von Hindernissen zu erreichen sind. Mal ehrlich: Über Erfolge freut man sich doch dann besonders, wenn man sie allen Widrigkeiten und Hindernissen zum Trotz erreicht hat. Lernen wir aus den Fehlern, die uns unterlaufen, so stärken sie uns, machen uns erfahrener und weiser. Und die Angst, einen Fehler zu begehen, darf uns nicht hindern, dennoch zu handeln!

Ein Schurz mit Flecken, Rissen und Kerben wurde genutzt!

Rufen wir uns zum Schluss kurz die fünf Grundideale unseres Bruderbundes ins Gedächtnis: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität.
Im Kontext meiner Zeichnung sage ich daher zu mir selbst und jedem einzelnen von euch:

Mach dich frei von der Angst, auf dem Weg zu deiner persönlichen und unerreichbaren Vervollkommnung Fehler zu begehen.
Erkenne die Tatsache an, dass alle Menschen darin gleich sind, dass sie zwar meistens durch guten Willen geleitet werden, aber nicht immer auf Anhieb den passenden Weg wählen.
Seien wir darin brüderlich, dass wir uns gegenseitig diese Tatsache verzeihen und keine Vorhaltungen machen.
Toleriere jeden Menschen für die Irrwege, die er gelegentlich geht, sofern ihn eine gute Absicht auf eben diese trieb.
Bleibe dabei menschlich. Denn deine Fehler machen dich nicht zuletzt zu dem, was du – mein lieber Bruder – bist … ein Mensch.

Mit einer kurzen Anekdote möchte ich das ganze versinnbildlichen:

Wer von uns hat nicht schon die Geschichte des Freimaurers Alexander Fleming gehört, der sich am St. Mary’s Hospital in London mit Staphylokokken beschäftigte. 1928 beimpfte er vor den Sommerferien eine Agarplatte mit Staphylokokken und vergaß diese dann in einem Spülbecken. Ein Missgeschick, ein Fehler zweifellos. Bei seiner Rückkehr entdeckte er am 28. September desselben Jahres, dass auf dem Nährboden ein Schimmelpilz (Penicillium chrysogenum) wuchs und sich in der Nachbarschaft dieses Pilzes die Bakterien nicht vermehrt hatten. Die Entdeckung des dafür verantwortlichen Wirkstoffs Penicillin rettete mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Millionen Menschen das Leben.

Also meine Brüder, nutze ein jeder von uns seinen Schurz nach seinem bestimmungsgemäßen Gebrauch. Am Ende unserer Tage, wenn wir dem Ewigen Osten entgegengehen und unsere irdischen Werkzeuge aus der Hand legen, dann wird es nicht darum gehen, einen möglichst sauberen weißen Schurz ablegen zu können, sondern einen mit Flecken, Rissen und Kerben. Denn erst dann haben wir ihn redlich und nach Kräften genutzt und unser Potenzial auf unserem Lebensweg voll entfaltet.

Dieser Beitrag stammt aus dem Heft 1-2021 der HUMANITÄT, dem deutschen Freimaurer-Magazin. Das Heft kann bei der Kanzlei abonniert werden.