Zum Jahreswechsel sind Vorsätze beliebt, veränderte Lebensentwürfe und vielleicht auch Leitfiguren oder Vorbilder. Können sie helfen?
Von Ulrich Felsmann
Seien wir ehrlich: Erwachsene nach ihren Leitfiguren zu fragen, bringt meist wenig Aufregendes mit sich. Viermal Achselzucken, zweimal Gandhi, einmal Mutter Teresa – so oder ähnlich lauten oft die Antworten. Die Genannten haben sich ohne Zweifel große Verdienste erworben, Handlungsanregungen für den Alltag geben sie den wenigsten von uns. Stellt sich die Frage: Haben wir es verlernt, Vorbildern zu folgen? Benötigen wir ein neues Orientierungsmanagement?
Auf die Frage nach Vorbildern folgt oft langes Schweigen, weil es fast unmöglich scheint, das ultimative Komplettpaket zu finden, das unsere Ideale in sich vereinigt. Es gibt eigentlich niemanden, dem wir in jeder Beziehung nacheifern wollen. Und außerdem haben wir meistens eine natürliche Abneigung dagegen, nur ein Abklatsch zu sein, das „Nachbild“ eines anderen. Brigitte Scheidt, Psychologin und Karrierecoach, sieht das so: „Im Moment hat alles Renaissance, was Orientierung gibt. Weil wir in einer Zeit leben, in der sich die Welt in einer Schnelligkeit dreht, dass den Menschen schwindelig wird. Weil Selbstverständlichkeiten aufbrechen und es schwierig wird, den rasanten Entwicklungen zu folgen. Ich könnte mir vorstellen, dass in solchen Zeiten Vorbilder – die es immerzu ja gibt – wieder bewusster werden“.
Nun sind Vorbilder nicht unbedingt das gleiche wie Idole, Helden oder Mentoren. Diese Kategorien müssen etwas anders eingeordnet werden. Ein Idol wird in der Regel überhöht und steht als leuchtender Stern über allem. Einen solchen Personenkult kennen wir von Heiligenbildern und aus Diktaturen, sie sind unerreichbar für die Verehrer. Zum Vorbild kann ein solcher Mensch werden, wenn etwa ein Teenager jeden Tag auf seiner Gitarre übt, um seinem Lieblingsmusiker nachzueifern. Ein Held dagegen steht eher für Werte, für Überzeugungen und Ideale. In einer schwierigen Situation wächst er über sich hinaus und riskiert dabei seine eigene Gesundheit, seine Freiheit oder sogar das Leben. An dieser Stelle noch einmal ausdrücklich fürs Protokoll: auch wenn ich nicht dem Zeitgeist folge und mich des Genderns enthalte – meine Ausführungen meinen grundsätzlich alle Geschlechter, der Held steht auch für die Heldin.
Auch ein Mentor ist nicht zwangsläufig ein Vorbild. Er hat schon erreicht, was sein Schützling anstrebt, er berät und fördert ihn. Ob dieser sich seinen Mentor aber auch zum Vorbild macht, das steht auf einem anderen Blatt. So etwas lässt sich nicht von außen bestimmen, das muss aus dem eigenen Bewusstsein heraus stattfinden. Insofern ist den Aufforderungen, sich jemanden zum Vorbild zu nehmen, oftmals kein Erfolg beschieden. Jemanden zum Vorbild erklären – das können wir endlich nur selbst. Das Verhalten eines anderen nachzuahmen, klingt einfach, ist aber oftmals harte Arbeit und kostet zuweilen Überwindung. Nehmen wir uns jemanden zum Vorbild, erklären wir uns bereit, etwas Neues zu lernen, indem wir ihm nacheifern. Dieser Weg ist aber nicht ungefährlich: wir
sind und bleiben ein anderer Mensch als unser Vorbild und müssen selbst unseren Weg finden.
Ein Vorbild ist selten perfekt
Es geht bekanntlich um unseren eigenen rauen Stein, der zu bearbeiten ist – ein zentraler Grundsatz, den wir allzu leicht immer wieder aus den Augen verlieren. Ein Vorbild ist selten perfekt. Martin Luther King ist es für viele in seinem Engagement für Gerechtigkeit, und er hatte auch heldenhafte Züge. Aber er war kein treuer Ehemann – wie das FBI im Rahmen des berüchtigten Counterintelligence Program feststellte. Ein Vorbild ist jemand, der eine Fähigkeit oder Haltung hat, der man nacheifert, dem man nach dem Prinzip „Lernen am Modell“ folgen kann. Kinder orientieren sich zunächst ganz selbstverständlich an den Eltern und reflektieren erst im Laufe ihrer späteren Entwicklung, was tatsächlich erstrebenswert erscheint.
Vorbilder können als Mutmacher fungieren, als Inspirationsquelle oder zur Bestimmung des eigenen Standortes. Es gibt Makrovorbilder aus einer Perspektive wie „ich möchte mal unternehmerisch so erfolgreich sein wie Mark Zuckerberg“ und Vorbilder auf einer Mikroebene wie „ich möchte so gute Pressetexte schreiben wie mein Chef“. Ein gutes Vorbild kann durch Fähigkeiten, Haltungen und Handlungen motivieren und stabilisieren. Vorbildhaftes Verhalten ist aber nicht automatisch gleichzusetzen mit ethischer Güte.
Vorbilder können auch invers funktionieren. Der Milliardär und Investor Charlie Munger war lange Zeit Warren Buffetts Geschäftspartner und ist ein großer Verfechter dieses Prinzips. Er nutzt Anti-Vorbilder, um die größten Hindernisse für seinen Erfolg aufzudecken und zu vermeiden. Ein Anti-Vorbild ist jemand, der nicht erreicht hat, was du erreichen willst, obwohl er sich auf dem gleichen Weg befindet. Die Werte und Verhaltensweisen dieser Menschen können helfen, ein ähnliches Schicksal zu vermeiden. Munger drückt das kurz und bündig aus: „… Vermeide diese Eigenschaften, und du wirst Erfolg haben. Sag mir, wo ich sterben werde, also gehe ich nicht dorthin.“
„Ich möchte kein Vorbild sein“, sagte die Sängerin Katy Perry vor einiger Zeit und schlug damit in eine altbekannte Kerbe. Immer wieder betonen Prominente, sie wollten die Verantwortung nicht, die ihnen allein aufgrund der Tatsache aufgebürdet wird, dass es Menschen gibt, die sie bewundern und am liebsten sein wollen wie sie. Auch Vorbilder können natürlich unkluge Entscheidungen treffen, unmoralisch handeln oder beschämend. Schwierig wird es allerdings, wenn diese Menschen aufgrund ihres Einflusses von
Unternehmen oder Organisationen zu Vorbild-Zwecken eingespannt wurden und ihren Rollenzuschreibungen von außen dann nicht mehr genügen.
Dabei ist der Begriff des Vorbilds zunächst einmal ganz neutral und ohne moralischen Anspruch – nicht jedes Vorbild führt zu einer positiven Entwicklung. Das wird insbesondere deutlich an dem oft zitierten Werther-Effekt, demzufolge eine breit angelegte Mediendiskussion über Selbsttötungen die Suizidrate in die Höhe treibt. So fand der junge Werther, der in Goethes Roman den Freitod suchte, im 18. Jahrhundert tatsächlich zahlreiche Nachahmungstäter. Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho zitiert in seiner Abhandlung „Vorbilder“ eine hinterbliebene Mutter, die Goethe sogar nach dessen Tod anklagte: „Auch mein Sohn hatte mehrere Stellen im Werther angestrichen. Von euch wird Gott Rechenschaft fordern über die Anwendung eurer Talente.“
Vorbilder verraten viel über denjenigen, der sie hat
Vorbilder haben auch noch einen anderen Aspekt: sie verraten viel über denjenigen, der sie hat. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage: Was kann der Benannte, was ich gern können möchte? Welche Eigenschaften oder Haltungen sprechen mich an? Was verbinde ich damit? Aus diesen und ähnlichen Fragen schält sich heraus, wohin jemand sich entwickeln möchte. Ein Psychologe würde das vielleicht so formulieren: „wenn Sie mir drei Vorbilder nennen, weiß ich eine Menge über Ihre Sehnsüchte – nur noch nicht über Ihre Möglichkeiten“.
Manchmal reicht aber schon ein einzelner Gedanke, an dem man sich festhalten kann. Wie der von Autorin J.K. Rowling. Sie handelte sich mehr als ein Dutzend Ablehnungen ein, bevor ein Verlag bereit war, „Harry Potter“ zu veröffentlichen. Rowling sagt, sie hätte nicht aufgegeben, bis sie von jedem einzelnen Verleger eine Rückmeldung bekommen hätte. So etwas kann man dann zum Vorbild dafür nehmen, an sich selbst zu glauben und durchzuhalten. Oder um es etwas prosaischer auszudrücken: „Statt den Himmel nach dem einen Stern abzusuchen, der alles überstrahlt und in dessen Glanz wir baden, sollten wir lieber auf die kleinen Lichter achtgeben, die einzelne Wegabschnitte beleuchten.“ (Brigitte Scheidt)
Im Zusammenhang mit Helden und Heldinnen habe ich zum Ausdruck gebracht, dass ich mit dem gendern in unserer Sprache nichts am Hut habe. Ich bin aber so altmodisch, vor zwei Frauen den Hut zu ziehen, mit deren Aussagen ich übereinstimme und denen ich
deshalb die letzten Worte überlasse: Margarete Mitscherlich über das Urbedürfnis nach Vorbildern und den gesunden Zweifel gegenüber kollektiver Verehrung, Die Zeit Nr. 9/2007: „Ich glaube, Vorbilder sind ein menschliches Urbedürfnis. Wir werden als total hilflose Wesen geboren, und deshalb brauchen wir Erwachsene, die mit der Welt zurechtkommen und an denen wir uns orientieren können. Außerdem benötigen wir Ideale, nach deren Verwirklichung wir streben können. Sonst sind wir einem Gefühl der Leere ausgesetzt. Nehmen Sie die Religion, auch sie ist auf dieses Bedürfnis zurückzuführen. Was die kollektive Verehrung von Personen angeht, sind wir zu Recht vorsichtig geworden. Durch unsere autoritäre Tradition waren wir dafür sehr anfällig. Wir sehnten uns immer nach
irgendwelchen Göttern, die uns beschützten. Und nachdem die Religion uns dann nicht so ganz das Richtige zu sein schien, haben wir Hitler zu Gott gemacht … , der wirklich keinerlei Begabung und Vorzüge hatte. Danach konnte es keine Götter mehr geben.“
Leyla Piedayesh, Gewinnerin des ICONISTA-Awards 2018: „Ich habe schon als Kind gelernt, keine Vorbilder zu haben. Ich habe niemanden heroisiert. Das kommt vielleicht daher, dass mein Heimatland Iran dem Fanatismus zum Opfer fiel … Am Ende des Tages werden wohl immer die Eltern zu Vorbildern – bewusst oder unbewusst. Ob das gut oder schlecht ist, weiß dann jeder für sich selbst.“
Eigentlich, die genaue Übersetzung ist: ”eins weiß ich, dass ich nichts weiß”
Auf Griechisch: Ἓν οἶδα ὅτι οὐδὲν οἶδα”
Servus, liebe Brüder,
es mag einigen altmodisch vorkommen, mein Vorbild ist Sokrates. Ich befasse mich seit über 20 Jahren mit Platon und da kam mir Sokrates
als einem außerordentlichen Menschen in seiner Bescheidenheit und philosophischen Konsequenz nachahmenswert vor. Dieser Sokrates
ist aber ideell so weit fort und auch überhöht, dass ein Nachahmen aussichtslos und ausgeschlossen ist. Trotzdem gibt er mir neben Platon
sehr viel und das immer wieder. “Ich weiß, dass ich nichts weiß” – diesen Ausspruch des Sokrates muss man verstehen lernen, dann versteht
man auch, was für ein Mensch er war.
Lieber Rolf Eicken,
korrekt heißt es, „Ich weiß, das ich NICHT weiß.“ und ist tiefe Erkenntnistheorie.
Viele Grüße
André Jarendt
Brüder, ist uns das “s” wirklich so wichtig…
Excelente! Triple Abrazo Fraterno.