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Von Dr. Yvonne Vosmann
Freimaurerei bezieht ihre Symbolik aus unterschiedlichen historischen und mythologischen Quellen. Natürlich aus dem Bauhandwerk, was wohl auch für den außenstehenden Betrachter am offensichtlichsten ist. Aber auch aus biblischen Überlieferungen und nicht zuletzt aus den alten Mysterienkulten. Hier spielen vor allem ägyptische Einflüsse eine große Rolle. Die moderne westliche Esoterik schöpft ebenfalls aus diesen angeblich uralten Überlieferungen. Doch was davon ist echte Tradition? Was davon ist dagegen nur Wunschdenken, Modeerscheinung oder sogar reiner Budenzauber. Die Unterscheidung fällt selbst „Eingeweihten“ schwer. Die Ägyptologin Dr. Yvonne Vosmann bringt deshalb Licht ins Dunkel.
Ägyptische Hieroglyphen und die Ägyptologie
Im Jahr 1717 wurde die moderne, internationale Freimaurerei gegründet. Etwa 100 Jahre später, nämlich 1822, gelang es Jean-François Champollion, die ersten ägyptischen Hieroglyphen zu entziffern. Jetzt war es endlich möglich, Originaltexte aus dem Land zu lesen, das seit antiken Zeiten als Quelle eines geheimen Wissens betrachtet wurde. Champollions bahnbrechende Erkenntnis hatte gravierende Auswirkungen auf das bis dahin geltende Ägyptenbild in Europa. Zuvor versuchte sich der Archäologe und Freimaurer Alexandre Lenoir (1762–1839) an der Entzifferung der Hieroglyphen.
Einige Forscher sehen dies als die Geburtsstunde der wissenschaftlichen Disziplin der Ägyptologie an. Eigentlich erforscht die Ägyptologie das pharaonische Ägypten. Damit ist der Zeitraum von etwa 3000 v.Chr. bis zur römischen Eroberung im Jahr 52 v.Chr. gemeint, als die letzte Pharaonin namens Kleopatra herrschte. In letzter Zeit befassen sich Ägyptologen vermehrt auch mit der „Rezeption“ dieser Kultur. Ein Kunstwerk zu betrachten oder einen literarischen Text zu lesen, versetzt Menschen in die Lage, sich mit etwas zuvor Unbekanntem zu beschäftigen. Infolgedessen können sie eigene Kulturprodukte erzeugen, die das zuvor rezipierte Objekt behandeln und erworbenes Wissen dazu mit eigenen Ideen vermischen.
Ähnlich verhielt es sich mit den Hieroglyphen vor deren Entzifferung. Aufgrund von mangelndem Wissen sind sie lediglich interpretiert worden, obwohl es sich bei ihnen tatsächlich um eine phonetische Schrift, eine Lautschrift, handelt. Sie können, wie andere Schriftsprachen auch, übersetzt werden. Ungefähr im 5. Jahrhundert geriet die Kenntnis über die altägyptische Schrift in Vergessenheit. Die Unfähigkeit, ägyptische Hieroglyphen zu entziffern und infolgedessen zu übersetzen, führte über mehrere Jahrhunderte zu Spekulationen. Man glaubte damals, dass es Eingeweihten möglich sei, die in den Hieroglyphen festgehaltenen Mysterien zu entschlüsseln. Die Hieroglyphen wurden als Symbole verstanden, die geheimes Wissen bewahrten.
Heute wird das alte Ägypten über Schriftzeugnisse erschlossen, die tatsächlich übersetzt und nicht nur interpretiert sind. Sie bilden z.B. die Gedanken der Ägypter und das ihnen in der Antike zur Verfügung stehende Wissen ab. Um ein geheimes Wissen handelt es sich demzufolge nicht. Dennoch existieren noch immer Vorstellungen parallel zu einem wissenschaftlichen Diskurs, auch solche, die längst widerlegt sind.
Ägyptosophie – was ist das?
Eine besondere Art der Ägyptenrezeption, die Jahrhunderte alte Fantasien tradiert und in der Esoterik sowie der Freimaurerei aufgeht, ist die Ägyptosophie. Der Ägyptologe Erik Hornung (1999, S. 10) prägte diesen Begriff und er konzentriert sich insbesondere auf die Esoterik und „die Auseinandersetzung mit einem imaginären Ägypten, das als tiefste Quelle allen Geheimwissens gilt“. Folgende Definition spiegelt den Kern von Hornungs (1997, S. 333) Betrachtung des esoterischen Ägypten wider: „Mit Ägyptosophie möchte ich nun alles benennen, was sich mit ägyptischer Weisheit beschäftigt oder mit dem, was dafür gehalten wird. […] Es ist die Weisheit des Hermes Trismegistos.“
Kulturelemente des alten Ägypten finden sich als Hybridisierungen in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen und werden zur Konstruktion einer imaginierten Weisheit herangezogen. „Hybridisierung“ bedeutet in dem Zusammenhang, dass Elemente der ägyptischen Kultur mit anderen Kulturelementen und/oder Ideen verknüpft werden.
Solche kulturellen Produkte können in speziellen Geschäften, auf Esoterik-Messen und im Online-Handel erworben werden. Angeboten werden Gegenstände sowie Dienstleistungen und auch Literatur. Die Nachfrage bestimmt bekanntlich das Angebot, und je nach Interesse sind Energiesprays, Räuchermischungen, wie das ägyptische Kyphi, angeblich schon zu Lebzeiten von den Pharaonen selbst verwendete Öle, Amulette mit ägyptischer Symbolik, Repliken und Totenbuchpapyri als Dekorationsgegenstände, sogenannte Pharaostäbe [sic!] zur Erhöhung des Energieflusses im Körper, Energiepyramiden, ägyptische Pendel, magische Rituale mit Ursprung in Ägypten und vieles andere auf dem Markt erhältlich.
Die Produkte sollen meist der Lebensverbesserung dienen. Vom Tragen von Amuletten, der Verbrennung von Räuchermischungen in der eigenen Wohnung oder dem Aufstellen von Energiepyramiden erhofft man sich positive körperliche oder psychische Wirkungen, etwa eine Verbesserung des allgemeinen Wohlbefindens und eine leichtere Gestaltung des Lebens. Wissen und Praktiken rund um das alte Ägypten werden mitunter als geheim deklariert. Derartige Geheimnisse sollen nur bestimmten, ausgewählten Personen zugänglich sein.
Aufgrund dieser Eigenarten sind die Beispiele dem Bereich Esoterik zuzuordnen, genauer: der Ägyptosophie. Esoterik einheitlich zu definieren ist recht schwierig, da es so viele unterschiedliche Ansätze dazu gibt. Das Wort „Esoterik“ stammt ursprünglich von dem griechischen esoterikos, was innerlich oder gebildet bedeutet. Zunächst ist der Begriff für Geheimlehren angewendet worden, die nur bestimmten Eingeweihten zugänglich waren. Heute ist Esoterik ein Oberbegriff für alles Spirituelle und Okkulte, das als praktische Lebenshilfe auf einem kommerzialisierten Markt vertrieben wird (Kuberski 2011, S. 55). Im vorliegenden Beitrag wird, wie heute allgemein üblich, eine kulturwissenschaftliche Perspektive eingenommen. Der Religionswissenschaftler Kocku von Stuckrad (2004, 10) verweist auf die verstärkten akademischen Bemühungen, „das Esoterische“ als Diskurselement europäischer Kulturgeschichte, sogar als Element der Religionsgeschichte Europas zu verstehen.
Antike Vorstellungen
Ägyptosophische Vorstellungen beginnen, wie Hornung definiert, mit Hermes Trismegistos („dreifach größter Hermes“). Zeitlich lassen sie sich daher in der Antike einordnen. Dieser Hermes ist bis in das 17. Jahrhundert hinein für eine reale Persönlichkeit gehalten worden, die im 2. Jahrhundert v. Chr. gelebt haben soll. Damals galt er als Gründerfigur des Hermetismus. Der Begriff bezeichnet eine Offenbarungslehre, die auf in Alexandria entstandene griechische Schriften mit der Bezeichnung Hermetica zurückgeht. Die Texte verbinden Elemente griechischer Philosophie, des Judentums und der Gnosis. Diese Schriften befassen sich zum einen mit philosophischen Themen, zum anderen behandeln sie die Natur und daraus abgeleitete Praktiken, wie etwa die Alchemie.
In der griechischen Interpretation entspricht Hermes Trismegistos dem altägyptischen Gott Thot. Er ist visuell in der Gestalt eines ibisköpfigen Menschen repräsentiert. Die Eigenschaften jener Gottheit sind synkretistisch, d.h. verschmelzend mit dem griechischen Hermes in Verbindung gebracht worden. Im alten Ägypten assoziierte man mit Thot viele Kulturleistungen, wie z.B. die Erfindung der Schrift, das Rechnen und die Verwaltung. Die Protokollierung während des Totengerichts fiel passenderweise in seinen Verantwortungsbereich. Als zuständig erachtet wurde er zudem für die Magie.
Übrigens ist die wissenschaftliche Abhandlung „Egyptian Magic“ von Wallis Budge, erstmals 1899 publiziert, noch heute ein verbreiteter Titel im esoterischen Bereich. Dies ist aufgrund des Alters der Monographie umso erstaunlicher. Denn neuere Werke trugen dazu bei, die religiöse Welt des alten Ägypten noch besser zu verstehen. Sie können auf erweiterte Erkenntnisse zurückgreifen, die Budge damals nicht zur Verfügung standen. Die Beliebtheit von „Egyptian Magic“ ist ein Beleg dafür, dass Anhänger der Esoterik an traditionellen Wissensbeständen festhalten möchten. Weil ein bestimmtes Wissen sich bereits als Referenz etabliert hatte, wird ausschließlich selektiv darauf zurückgegriffen. Indem aktuelle Diskussionen nicht immer in Betracht gezogen werden (müssen), ist es infolgedessen möglich, sich von Außenstehenden abzugrenzen.
Ein Grund für den starken Bezug auf die ägyptische Magie und eine daraus folgende wirkmächtige Vorstellung all dessen, was mit Ägypten zusammenhängt, ist der antike Osiris-Mythos. Der griechische Philosoph Plutarch fasste den Mythos erstmals vollständig im 1. Jahrhundert n. Chr. zusammen. Bei dem Text handelt sich um eine Zusammenstellung unterschiedlicher Versatzstücke und einzelner Teilinhalte aus mehreren Jahrhunderten ägyptischer Religionsgeschichte. Die ältesten Teile gehen in die Zeit des Alten Reichs von 2700 bis 2200 v.Chr. zurück.
Der Mythos behandelt den Tod des Gottes Osiris, der durch seinen Bruder Seth ermordet wurde. Mithilfe seiner Schwestergemahlin Isis erlebte Osiris eine mythische Wiedergeburt. Die magischen Kräfte der Isis vermochten es, Osiris wiederherzustellen und posthum einen Sohn namens Horus mit ihm zu zeugen. Danach verbleibt Osiris als Herrscher in der Unterwelt, wobei Horus in der Welt der Lebenden herrscht.
Die einzelnen Elemente bieten eine Vorlage für viele Rezeptionsstränge, die sich daraus ableiten lassen. Zudem war der Mythos mit den griechisch-römischen Mysterienkulten verbunden, bei denen Initiationsriten durchgeführt wurden. Die Rekonstruktion des Ablaufs gestaltet sich aufgrund der Natur dieser Riten als ebenso schwierig wie die Einschätzung ihrer Bedeutung. Daher verwundert es nicht, dass dieser seit der Antike bekannte, aber dennoch nicht genau zu erklärende Themenkomplex ideale Voraussetzungen für Interpretationen darstellt.
Die Rolle der europäischen Kulturgeschichte
Die europäische Rezeption der altägyptischen Kultur lässt sich grundsätzlich auf zwei historische Traditionsstränge herunterbrechen. Zum einen erfolgte eine positiv angelegte Sichtweise, die mit dem Osiris-Mythos gerade vorgestellt worden ist. Diese deutet Ägypten als Wunderland. Zum anderen gibt es die biblische Tradition, die dem Land eine negative Rolle zuweist. Ägypten wird im Alten Testament als Sklavenhaus bezeichnet, aus dem sich die Hebräer unter Leitung von Moses mit der Wanderung in das „gelobte Land“ befreiten. Der Rückgriff auf das alte Ägypten erfolgt in beiden Richtungen auf das „exotische Andere“, was der Okzident im Orient mitunter zu finden sucht.
Zur Zeit der Renaissance bestand erneut ein vermehrtes Interesse an dieser „anderen“ Kultur. Die antike Schriftensammlung „Corpus Hermeticum“ wurde im 15. Jahrhundert wieder vollständig zugänglich, nachdem im Mittelalter nur Auszüge bekannt gewesen waren. Ihre Neuentdeckung trug zum Aufleben ägyptosophischer Vorstellungen bei. Allerdings stellte Isaac Causabon 1614 fest, dass es sich um ein spätantikes Werk handelt. Demnach war Hermes Trismegistos auch keine historische Persönlichkeit aus dem alten Ägypten. Dennoch blieb die Faszination für Ägypten bestehen.
Insbesondere die Rezeption exotischer Ausstellungsstücke rückte damals in das Blickfeld des Interesses. Ein wichtiges Ereignis in diesem Zusammenhang war die Expedition Napoléon Bonapartes von 1798 bis 1801, welche die „Description de l’Égypte“ hervorbrachte. Dabei handelt es sich um eine bildreiche Dokumentation, die von Gelehrten erstellt wurde. Reisende trugen während dieser und der nachfolgenden Zeit ebenfalls maßgeblich zu einem verstärkten Zugang zum alten Ägypten bei. Europa war von ägyptisch aussehenden Monumenten zunehmend begeistert. Touristen und Händler besorgten deshalb Antiquitäten, Inschriften und Mumien für den europäischen Markt.
Mehr und mehr etablierten sich Sammlungen und Museen, wie das British Museum in London und der Louvre in Paris. Dies ermöglichte es breiten Bevölkerungsschichten, das alte Ägypten hautnah im eigenen Land zu erleben. In dieser Zeit erfuhren auch Hieroglyphen, die auf Artefakten und Monumenten zu sehen sind, eine erneute mystische Deutung, welche eine damit verbundene neue esoterische Bedeutungsdimension ist. Sie erscheint als Teil des Orientbildes, das in Europa konstruiert wurde und kritisch hinterfragt werden sollte.
Das 18. Jahrhundert stand unter dem Zeichen der Aufklärung, obgleich auch Okkultismus und Geheimgesellschaften vermehrt auftraten. Zu dieser Zeit setzten sich unterschiedliche freimaurerisch geprägte Logen und Gesellschaften mit dem alten Ägypten auseinander, vor allem die „Gold- und Rosenkreuzer“, die „Afrikanischen Bauherren“ und die „Ägyptische Freimaurerei“ (auch „Memphis-Misraïm-Ritus“) nach einem Ritus von Cagliostro.
Unter den Freimaurern gab es damals, wie in anderen Teilen der Gesellschaft, ein rein ästhetisches Interesse am alten Ägypten, vor allem während des 19. und 20. Jahrhunderts. Logenhäuser waren im ägyptisierenden Stil gehalten, welcher „Egyptian Revival“ genannt wird. Hieroglyphen oder ägyptische Symbolik fanden als stilistische Elemente häufige Verwendung. Beispielsweise waren Möbel mit detailreichen Motiven, wie Skarabäen oder Isis-Köpfen, verziert, Säulen in Form von Pyramiden oder Obelisken gestaltet und Außenfassaden von Logenhäusern an Bildmotive aus altägyptischen Tempelanlagen angelehnt. Der Tempel der Loge „Amis Philanthropes“ in Brüssel ist besonders detailreich gestaltet und greift auf archäologische Quellen zurück. Zwar werden diese uneinheitlich herangezogen, die Dekoration bleibt nichtsdestoweniger äußerst beeindruckend.
Leitfiguren esoterischer Ideen
Von besonderem Interesse auf einer Bedeutungsebene, die den Ursprung allen Wissens und der Religion im alten Ägypten sah, waren allerdings die Mysterienkulte. Die Freimaurerei zeichnet sich daher durch eine esoterische Charakteristik aus. Wie Florian Ebeling (2017, 389) herausstellt, prägte das Motiv der ägyptischen Mysterien die Vorstellungen der Freimaurer über Initiation und Ritus. Er beschreibt ferner, dass die Unterscheidung vom „Öffentlichen und Geheimen“ für einen Vergleich mit der ägyptischen Kultur herangezogen wurde. In den 1780er Jahren erschienen drei verschiedene Bilder ägyptischer Freimaurerei, nämlich ein radikalaufklärerischer Spinozismus, ein mystomanischer Hokuspokus und ein Hermetismus alchemo-paracelsischer Prägung, wie Ebeling schreibt (2009, 10).
Einen starken Einfluss auf die moderne Esoterik hatten Helena P. Blavatsky (1831–1891) und Aleister Crowley (1875–1947). Beide beriefen sich auf angeblich ägyptische Weisheit.
Ursprünge solch esoterischer Ideen finden sich bei der Theosophischen Gesellschaft, die 1875 von Blavatsky und Henry S. Olcott in New York gegründet wurde. Diese Bewegung verband Elemente der unterschiedlichsten Religionen und geistigen Strömungen, z.B. Kabbala, Buddhismus und Christentum. Sie stellte eine Geheimlehre dar, die sich mit Spiritualität befasst und als Grundstein der modernen Esoterik angesehen wird.
In ihrer Schrift „Isis Unveiled“ („Isis entschleiert“) will Blavatsky einen Meisterschlüssel zu den Mysterien der Welt darlegen. Darin thematisiert sie auch das alte Ägypten und dessen Rolle als Land der Weisheit und schreibt: „Sie sandten keine Kundschafter durch die Welt, um aufzufangen, was andere wussten; die Weisen der Nachbarländer kamen vielmehr zu ihnen, um Wissen zu erwerben. Sich stolz in ihrem Zauberlande abschließend, schufen die Könige der Wüste Wunder über Wunder wie mit schwingendem Zauberstabe.“ (Blavatsky 2000, S. 548 f.) Ägypten ist hier also als Land des Wissens und der magischen Künste konstruiert.
Nicht nur Theosoph, sondern zudem Mitglied des „Hermetic Order of the Golden Dawn“ war Aleister Crowley. Im Gegensatz zur Theosophie Blavatskys bezog er sich stärker auf die westlichen Mysterien und die Rosenkreuzer. Aufgrund seines Interesses an Alchemie und ägyptischer Mythologie, trat Crowley dem Memphis-Misraïm-Ritus bei und wurde Leiter des englischen Zweiges.
Von besonderer Wichtigkeit ist die Schrift „Liber AL vel Legis“ („Das Buch des Gesetzes“), welche die Grundlage seiner Offenbarungslehre namens „Thelema“ ist. Das von ihm verfasste Buch soll die Übersetzung einer Stele des Priesters Anchesefons sein, der im 7. Jahrhundert v.Chr. lebte. Crowley entdeckte die Inschrift im Museum von Kairo im Jahr 1904 und hielt sich selbst für die Reinkarnation des Priesters. Seine Frau soll ihm bei der Anfertigung der Übersetzung behilflich gewesen sein, indem sie den (in der altägyptischen Religionsgeschichte nicht belegten) Gott „Aiwaz“ channelte. Channeling bezeichnet in der Esoterik eine Praktik, bei der Menschen als Medium für eine Botschaft aus der transzendenten Welt fungieren. Als Kommunikationspartner dienen der Vorstellung zufolge übernatürliche Wesenheiten, wie Götter oder Engel. Schließlich habe Aiwaz der Ehefrau Crowleys während dieses Gesprächs ein neues Zeitalter verkündet.
Das freimaurerische Werk „Crata Repoa. Oder Einweihungen in der alten geheimen Gesellschaft der Egyptischen Priester“ wurde 1770 anonym verfasst. Die Autoren konstruierten aus antiken Schriften über Priester einen Einweihungsweg über sieben Grade. Der Text gehört zu den Grundschriften der Esoterik. Die sich darauf gründende Freimaurerei Cagliostros erfuhr Kritik durch Goethe und andere, wegen ihres Hangs zu Alchemie und Magie. Daraufhin erfolgte eine grundlegende Verankerung ägyptischer Freimaurerei durch den Aufsatz „Ueber die Mysterien der Aegyptier“ von Ignaz von Born 1784. Und schließlich wurden durch Mozarts „Zauberflöte“ 1791 die freimaurerischen Vorstellungen vom alten Ägypten einem breiten Publikum nähergebracht.
Die Wirkung ägyptischer Weisheit
Die Ideen von Blavatsky, Crowley und anderen Persönlichkeiten beeinflussen bis heute esoterische Bereiche. Hier steht Ägypten als erzählerisches Konstrukt innerhalb einer Tradition im kulturellen Gedächtnis. Darüber hinaus erscheint das alte Ägypten als spirituelles Konstrukt auf einer subjektivierten Ebene: die der individuellen Spiritualität. Rezipienten können frei aus dem esoterischen Angebot wählen und ihrer Auswahl eine eigene Bedeutung geben. Auffällig an ägyptosophischen Konstruktionen ist oftmals die dazugehörige Idee einer (versprochenen) Wirksamkeit, die von Rezipienten unterschiedlich gedeutet werden kann.
Die ägyptosophische Rezeption des alten Ägypten lässt sich systematisch, d.h. vergleichend betrachten. Der Religionswissenschaftler Hartmut Zinser gelangte auf der Grundlage einer Analyse der modernen Esoterikbranche anhand von Messen zu dem Schluss, dass die Verbindung mit unserer Tradition und die Thematisierung dieser Dinge in Zusammenhang mit Religion hierbei das Kernelement bilden. Zinser (1997, S. 83) identifiziert „Heil, Heilung, Heiligung“ und die „Einweihung in das uralte Wissen über verborgene Kräfte“ als Bewältigungsstrategie und Motivator für die Branche.
Die Idee der Wirksamkeit geht aus der Idee der Weisheit hervor. Es hat den Anschein, als seien die Objekte wirkmächtig, weil sie das antike ägyptische Wissen akkumulierten. In diesem Kontext entstanden unterschiedliche Produkte der Rezeption des alten Ägypten im Rahmen der Ägyptosophie. Sie repräsentieren heute verschiedene Praktiken und Methoden, die sich anhand unterschiedlicher Produkte identifizieren lassen. Nachfolgend wird ein Einblick in diverse Praktiken dazu eröffnet.
Tarot
Als erstes Beispiel soll ein Klassiker der ägyptischen Esoterik betrachtet werden. Im Jahre 1935 erfand Aleister Crowley das Tarot des Thot, das auch als „ägyptisches Tarot“ bekannt ist. Das Tarot gehört in den Bereich der Mantik, also der Kunst des Wahrsagens, die zur Zukunftsdeutung herangezogen wird. Es handelt sich bei dem Tarot um ein Kartendeck aus 78 Karten. Mit unterschiedlichen Legesystemen, z. B. in Pyramidenform, sollen Aussagen für einen Fragesteller herbeigeführt werden können. 1944 erschien das dazugehörige Buch „The Book of Thot“, das Crowley entwarf. Mittlerweile sind auch mehrere Freimaurer-Tarots entstanden, die die typische Symbolik der Freimaurer abbilden.
Lange Zeit wurde angenommen, dass das Tarot aus Ägypten stamme. Viele Bildkarten sind mit ägyptischer Symbolik gestaltet, enthalten Darstellungen ägyptischer Gottheiten oder sind im Stil beschrifteter Papyri gehalten. Im Prinzip wird beim Tarot etwas in die Karten hineingelesen, genauso wie eine Bedeutung in die Hieroglyphen hineininterpretiert wurde. Thomas Körbel (2001, S. 171) setzt sich mit dem Kartenspiel im Rahmen okkultistischer Interessen zur Zeit des Historismus im 19. Jahrhundert auseinander: „Die herrschende Ägyptomanie legte es nahe, etwas Geheimnisvolles wie den Tarot als ‚ägyptisch‘ zu bezeichnen, besonders wenn ‚ägyptisch‘ nahezu als Synonym zu ‚geheimnisvoll‘ verstanden wurde.“
Weiterhin beschreibt Körbel (2001, S. 166f), dass der Begriff den Entstehungsgeschichten um das Tarot zufolge auf das ägyptische Wort tar zurückgeführt werden kann. Somit deutet es etymologisch auf das arabische Wort für „Weg“ hin. In der Wissenschaft wurde ein etymologischer Bezug zwischen den englischen Wörtern gypsy für „Zigeuner“ und Egypt diskutiert. Dies gilt jedoch als widerlegt. Das Tarot entstammte vielmehr dem Französischen des 15. Jahrhunderts.
Energiepyramiden
Ein zweites bekanntes Beispiel sind Energiepyramiden. Sie tauchten in den 1960er Jahren auf und sind noch immer auf dem Markt erhältlich. Ästhetisch anziehend ist vermutlich die Form des Dreiecks, die sich architektonisch beeindruckend in monumentalem Ausmaß in Ägypten findet. Besonders bekannt sind die drei Pyramiden von Gizeh, die als pharaonische Grabmale dienten und den Pharaonen Cheops, Chephren und Mykerinos zugeordnet werden.
Freimaurer ließen sich ebenfalls in pyramidenförmigen Grabanlagen bestatten. Ein aktuelles Beispiel einer Pyramide aus Stahl mit goldener Spitze ist das Gemeinschaftsgrab der Frankfurter Freimaurerloge „Zur Einigkeit“. Die Pyramide als Symbol in der Freimaurerei ist für die christliche Trinität bekannt. Sie kann auch als Dreieck gedeutet werden und repräsentiert dann den allmächtigen Bauherrn. Der Herr über die Dreiheit herrscht über den Lebenszyklus von Geburt, Leben und Tod.
Energiepyramiden aus Metallrahmen als esoterische Objekte gibt es in unterschiedlichen Größen. Bei dem Metall handelt es sich häufig um Kupfer, das wegen seiner antibakteriellen Eigenschaften als besonders gesundheitsfördernd betrachtet wird. Diese Art von Pyramide dient dazu, etwas hineinzulegen, bei größeren Modellen ist es möglich, sich hineinzusetzen. Darüber hinaus sind massive Pyramiden von mehreren Zentimetern Größe erhältlich. Sie bestehen aus unterschiedlichen Materialien, oftmals aus Schmuckstein, dem traditionell eine energetische Wirkung zugeschrieben wird.
Typisch ist, dass sich moderne Vorstellungen über die Pyramidenenergie oftmals mit Konzepten vermischen, die der Physik entliehen sind. Die Energiepyramiden sollen allgemein dazu dienen, kosmische Strahlung zu bündeln oder das Kraftfeld beziehungsweise das Magnetfeld der Erde zu verstärken. Objekte, Menschen, Tiere und Räume u.a. können angeblich durch die Nähe zur Energiepyramide „aufgeladen“ werden. Eine verbreitete Vorstellung der Anfangsjahre bestand in der Idee, dass durch die Pyramidenenergie stumpfe Rasierklingen wieder geschärft und organische Materialien langsamer verderben würden. Dahinter steckt vermutlich eine Analogievorstellung zur Mumifizierung und eine angenommene Wirkung der Pyramide auf die Mumien von Pharaonen. Heute ist es oft üblich, unter oder in der Nähe der Pyramiden zu meditieren, um von den ihnen zugeschriebenen Eigenschaften zu profitieren.
Energiepyramiden vermischen das alte Ägypten mit dem Bereich der Radiästhesie beziehungsweise den Vorstellungen zum Wünschelrutengehen. Esoterische Ideen gehen dabei in der Pyramidologie auf. Diese ist eine Parawissenschaft, die sich hauptsächlich auf die Abmessungen der Cheopspyramide bezieht. Das Thema ist sehr vielfältig, beginnt zeitlich bereits in der Antike und kann hier nur ansatzweise eingegrenzt werden. Im Kern wird Folgendes behauptet: In den Maßen der Pyramide sollen sich geheime Botschaften verstecken, die entschlüsselt werden und daraufhin Einsichten in universelle Weisheiten geben können (siehe Schmeh 2001, S. 4-12). Der esoterische Fokus liegt vor allem auf der Wirkungsweise und kann damit von der klassischen Pyramidologie und anderen Formen abgegrenzt werden.
Ein weiterer Bereich ist die von Blavatsky vertretene Pyramidenmystik. Dabei geht es um die Vorstellung von Initiationsriten, die sich im Innern der Pyramiden abgespielt haben sollen. Sie sollen der Einführung in geheimes Wissen gedient haben. In dem Freimaurerroman „Sethos“ von Jean Terrasson geht es um die Unterwelt der Pyramiden, in die sich der Held begibt, um dort Aufgaben zu lösen. Er muss eine Feuer-, Wasser- und Luftprobe bestehen und danach erfährt er die Initiation.
Amulette
An dritter Stelle lohnenswert zu erörtern ist das Amulettwesen. Amulette mit ägyptischen Symbolen sind zugleich ästhetisch ansprechend und werden von Anbietern für die Kunden mit spiritueller Bedeutung versehen. Durch direkten Körperkontakt sollen sie den Träger schützen und Besserung in bestimmten Lebensbereichen bewirken. Moderne Amulettmotive sind oft erstaunlich nah an die originale ägyptische Symbolik angelehnt. Skarabäen werden noch heute als Glückssymbole getragen und stellen damit eher einen Talisman dar. Zudem gibt es Anhänger, welche die Gottheiten Isis, Osiris und Horus abbilden und damit klar auf den Osiris-Mythos hinweisen.
Ein anderer Mythos erzählt vom Kampf zwischen Horus und seinem Onkel Seth. Seth macht Horus die Thronfolge nach dem Tod seines Vaters Osiris streitig. Horus verliert dabei ein Auge und hat also nur noch ein gesundes, das Udjat-Auge. Es wurde umgedeutet und ist heute als „Das allsehende Auge“ bekannt. Es symbolisiert die vollkommene Schöpfung und die Kraft Gottes, alle Geheimnisse zu erkennen.
Die katzengestaltige Gottheit Bastet ist ebenfalls häufig unter den Amuletten vertreten. Vielleicht ist der Grund in der allgemeinen Beliebtheit des Katzenmotivs in der Populärkultur zu suchen, etwa in unzähligen Bildern und Videos in den sozialen Medien.
Eine besonders oft vertretene Schmucklinie in der Esoterikbranche ist die „Juwelen des Atum Ra“-Kollektion. Die Amulette „tragen den Schlüssel zu heiliger Wahrheit und ewiger Weisheit in sich. Sie eröffnen dem Träger magische Weitsicht und lebensverbessernde Fähigkeiten“, so der Werbetext des Anbieters. Die Beschreibung verweist deutlich auf ägyptosophische Vorstellungen. Darüber hinaus knüpft sie an die Idee der positiven Auswirkungen auf das Leben des Trägers an.
Das vermutlich beliebteste Amulett ist das Anch (anglophon: ankh), bei dem es sich wahrscheinlich ursprünglich um die symbolische Darstellung eines verschlungenen Seiles handelt. Auffällig ist der T-förmige untere Teil, der in der Form eine Ähnlichkeit zum christlichen Kreuz aufweist. Aus diesem Grund etablierte sich die lateinische Benennung Crux Ansata. Die altägyptische phonetische Schreibung lautet cnḫ, was die Vokabel für „Leben“ repräsentiert. Als Lebenszeichen ist das Anch in der religiösen Symbolik des alten Ägypten bei fast allen Darstellungen von religiösen Situationen abgebildet.
In der Esoterik ist das Anch ursprünglich im Logo der Theosophen aufgetaucht. Das Logo setzt sich aus unterschiedlichen Symbolen verschiedener Kulturelemente zusammen. Das altindische Symbol namens Swastika wird von dem Maul und dem Schwanz einer Schlange, dem Uroboros (Schwanzverzehrender) berührt. Der Uroboros ist ebenfalls ikonographisch aus dem alten Ägypten und parallel dazu aus anderen Kulturen bekannt. Das Symbol wird in der Alchemie als Sinnbild der Einheit der Welt verstanden. In der Freimaurerei ist der Uroboros ein Zeichen für Unendlichkeit oder Einigkeit, da er kein Ende hat. Der gebildete Kreis des theosophischen Logos erfasst zwei ineinander verschlungene Dreiecke (auch als Davidstern bekannt). In der Mitte arrangiert sich das Anch-Zeichen als Zentrum. In ähnlicher Weise verwendete die Loge „Isis zu den drei Sphinxen“ (Schwerin) ein Pentagramm vor einem Strahlenkranz, in dessen Mitte das Anch arrangiert ist. Das dazugehörige Bijou wird durch ein Anch-Zeichen repräsentiert.
Schlussbetrachtung
Der Orientalismus prägt das Bild Ägyptens bis in die heutige Zeit hinein. Eine kritische Betrachtung hierzu findet sich bei Edward Said (2009). Das alte Ägypten bietet einen Faszinationsraum, der unterschiedlich „aufgeladen“ werden kann. Ägyptisches erscheint in Zusammenhang einer europäischen Sichtweise als mehrdeutiges Rezeptionselement. Damit einhergehend spielt der Exotismus eine Rolle, der aus soziologischer Sicht als eurozentristischer Blick auf fremde Kulturen betrachtet wird. Das Land am Nil kann als fremdes Kulturelement in der Gesellschaft akzeptiert werden, weil es Sinnpotenziale für die eigene Kultur aufweist. Dabei wird es sowohl von „Geheimgesellschaften“ herangezogen, die esoterisch charakterisiert sind, als auch von einer breiten Masse. Ehemalige „Geheimnisse“ über das alte Ägypten drangen immer mehr in die breite Gesellschaft vor.
Der Rezipient möchte eine persönliche Teilhabe an der Exotik ferner Länder erleben. Dies ermöglicht er sich durch die Inanspruchnahme von Objekten und Ideen, die das Fremde repräsentieren. Die ägyptische Exotik erscheint als bourgeoises Accessoire, so kann beispielsweise eine Replik des ägyptischen Totenbuches eine moderne Wohnzimmerwand zieren. Der Totenbuchpapyrus kann jedoch nicht nur gleichzeitig ästhetisch, sondern auch auf individuelle Art und Weise spirituell aufgeladen werden. Dahinterliegende ägyptosophische Imaginationen dienen einer Wiederverzauberung der eigenen entzauberten Welt. Sie wird zur Konstruktion eigener Lebenswelten herangezogen, die in ihrem Bedeutungskontext einen esoterischen Charakter aufweisen. Das alte Ägypten erfährt in der Freimaurerei eine Aufladung mit Ideen rund um die Mysterien und die Initiation. Vom 19. Jahrhundert an erscheint es vor allem als ein stilistisches Element, ist jedoch nicht nur in die ägyptische Freimaurerei eingebettet, sondern Elemente dieser Idee erscheinen übergreifend innerhalb dieses Bundes.
Die Ägyptosophie stellt einen kleinen, dennoch beständigen Bereich der Esoterik mit jahrhundertealter Tradition dar. Die einzelnen Ausprägungen ägyptosophischer Vorstellungen weisen zwar Ähnlichkeiten auf, dennoch entstammen sie unterschiedlichen Strömungen. Diese Ideen können teilweise in der Populärkultur aufgespürt werden und sind deshalb vielen Menschen bekannt. Hingegen ist seriöse Literatur rar, insbesondere zu Detailthemen. Der Bereich des alten Ägypten in Verbindung mit esoterischen Ideen bietet noch viele Möglichkeiten zur weiteren Beschäftigung.
Dieser Beitrag stammt aus dem Heft 2-2022 der HUMANITÄT, dem deutschen Freimaurer-Magazin. Das Heft kann bei der Kanzlei abonniert werden.