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Von Javier Y. Álvarez
Wohltätigkeit ist eine aktive Form der Glückseligkeit. Manche behaupten sogar: In der Wohltätigkeitsarbeit drehe sich alles um die Freude, seinen Mitmenschen Freude zu bereiten.
Aber was ist eigentlich eine Wohltat? Seneca, der römische Philosoph aus dem 1. Jh., antwortet auf diese Frage folgendermaßen: Eine Wohltat sei „eine wohlwollende Handlung, die Freude schenkt und empfängt, dadurch, dass sie schenkt, zu dem, was sie tut, geneigt und aus eigenem Antrieb bereit. Daher kommt es nicht darauf an, was gemacht oder was gegeben wird, sondern in welcher Gesinnung, weil eine Wohltat nicht in dem, was gemacht oder was gegeben wird, besteht, sondern in des Gebenden oder Handelnden seelischer Haltung an sich“.
Wenn ich nicht wüsste, dass Seneca vor mehr als zweitausend Jahren lebte, und seine Texte ohne jegliche historische Referenz lesen würde, könnte ich meinen, diese Texte wurden von einem Freimaurer geschrieben. Denn sie wirken hochaktuell.
Seneca widmete dem Thema der Wohltaten eine ganze philosophische Abhandlung, nämlich „Über die Wohltaten“ („De Beneficiis“). Dabei spielt der Begriff der Dankbarkeit eine zentrale Rolle.
Über die Dankbarkeit
Zunächst möchte ich über das allgemeine Problem Klarheit schaffen, das es in der Abhandlung zu lösen gilt. Also: Was ist das allgemeine Problem von „Über die Wohltaten“? Als zweiten Schritt möchte ich unsere Aufmerksamkeit auf Senecas Grundverständnis von Dankbarkeit lenken. Mit anderen Worten: Was versteht Seneca unter Dankbarkeit? Und schließlich besteht der dritte Schritt darin, unsere Aufmerksamkeit auf die Stelle des Begriffs der Dankbarkeit in Senecas Darstellung zu fokussieren. In diesem letzten Schritt möchte ich die Frage beantworten: Welche argumentative Stelle nimmt Dankbarkeit in Senecas Abhandlung ein?
Senecas Ethik ist eine Tugendethik (neben der deontologischen und der teleologischen Ethik). Er vertritt also eine Ethik, die sich auf den Charakter des sozialen Akteurs konzentriert, um den Wert seiner Handlungen zu bestimmen. Diese Art Ethik steht in einer engen historischen Kontinuität mit Aristoteles. Aristoteles beschreibt die charakterliche Tugend (aretḗ ēthikḗ) im 2. Buch der „Nikomachischen Ethik“ als (a) eine Haltung oder Disposition, die sich (b) in Entscheidungen äußert bzw. die zu bestimmten Entscheidungen befähigt ist. Diese Disposition liegt für uns in einer Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig, und zwar in einer Mitte, die (c) von einem besonnenen Handelnden der Vernunft (lógos) gemäß, bewusst und überlegt (wissend) bestimmt wird. Das ist, was im Volksmund als die aristotelische „goldene Mitte“ bezeichnet wird.
Deswegen betont Seneca in seiner Auseinandersetzung mit den Wohltaten immer wieder den Aspekt der richtigen Gesinnung, d. h. unter anderem, dass die Absicht, die Überlegungen, das Wissen, der Wille und die Selbstbestimmung beim Erweisen und Entgegennehmen von Gaben oder Gefallen vorhanden und stimmig sein müssen, um überhaupt über Wohltaten sprechen zu können. Und trotzdem räumt Seneca genügend Raum ein, um anzuerkennen, dass Wohltaten in einer physikalischen Welt stattfinden. Demzufolge müssen wir uns dessen bewusst sein, dass eine tugendhafte Handlung auf zwei Ebenen stattfindet, nämlich: der Objekt- und der Gesinnungsebene.
1. Frage: Was ist das allgemeine Problem in „Über die Wohltaten“?
Seneca stellt die undankbare Gesinnung (ingratus animus) hier als Folge unseres falschen Erweisens und Entgegennehmens von Wohltaten dar. Die aus diesen Ursachen entstandene Undankbarkeit ist also das eigentliche Problem, das es in der Abhandlung zu lösen gilt.
„Unwillkommen [ingratum] ist eine Wohltat, die lange in des Gebenden Händen hängengeblieben ist, die einer ungern loszulassen den Eindruck erweckt hat und so zu erweisen scheint, als ob er sie sich losrisse.“
Hier bietet Seneca ein konkretes Beispiel für eine falsche Handlungsweise beim Erweisen von Wohltaten. Die direkte Folge ist Undankbarkeit bei dem Begünstigten. Durch das Zögern wird das Schönste am Entgegennehmen einer Wohltat zerstört.
Das eigentliche Problem, das Seneca durch seine Abhandlung beheben möchte, ist die Undankbarkeit. Hier erkennt er, dass die Ursache des größten Teils der erlebten Undankbarkeit das falsche Erweisen und Entgegennehmen von Wohltaten ist.
2. Frage: Was versteht Seneca unter Dankbarkeit?
„Wenn wir eine Wohltat anzunehmen für nötig gehalten haben, wollen wir sie heiter annehmen und unsere Freude offen bekunden, und für den Schenkenden sei sie wahrnehmbar, damit er für den Augenblick einen Gewinn erhalte; ein rechtmäßiger Grund zu Freude ist es nämlich, einen Freund freudig zu sehen, ein rechtmäßigerer, ihn erfreut zu haben; dass Freude zu uns gekommen ist, wollen wir bekunden mit überströmenden Gefühlen, die wir nicht nur, wenn der Schenkende selbst zuhört, sondern überall bezeugen wollen. Wer eine Wohltat dankbar annimmt, zahlt die erste Rückzahlungsrate für sie.“
Dies sind konkrete Handlungsanweisungen dazu, wie man eine Wohltat dankbar entgegennimmt. Hier beschreibt Seneca die Dankbarkeit als ein Gefühl (Freude), das einen entsprechenden Ausdruck finden soll. Wir sollten also eine Wohltat mit Freude, mit heiterer Stimmung entgegennehmen, sie öffentlich anerkennen und unsere Dankbarkeit aussprechen, und zwar sogar über den gegenwärtigen Moment hinaus.
Wichtig an dieser Stelle ist zu unterstreichen, dass Seneca bereits hier versucht, eine intrinsische Verbindung zwischen dem Moment des Entgegennehmens und dem Moment des Erwiderns einer Wohltat herzustellen. Es ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass Seneca das berühmte stoische Paradox wenige Kapitel später im selben 2. Buch einführt:
„Wer gern [libenter] eine Wohltat entgegengenommen hat, vergilt sie.“ (qui libenter beneficium accipit, reddidit)
In seiner Abhandlung beschreibt Seneca den inneren Zustand und die Grundhaltung des dankbaren Menschen als glücklich und stets bereit für die Gelegenheit zum Danken. Mit anderen Worten, hier wird beschrieben, wie der dankbare Mensch eine Handlungsabsicht pflegt, die von Freude und Aufrichtigkeit der Anerkennung motiviert ist.
Oft beschreibt Seneca die Dankbarkeit, in dem er ihr Gegenteil darstellt, d. h. er sagt, was Dankbarkeit nicht ist. Beispielsweise beschreibt er anhand von konkreten Schilderungen, was ein dankbarer Mensch nicht ist. Diese Art Beschreibungen beabsichtigen, uns etwas ex negativo darüber zu sagen, mit welchem allgemeinen Dankbarkeitsverständnis Seneca hier arbeitet. Ein dankbarer Mensch wäre z. B. kein Dieb, kein Mörder oder kein Verräter. Wir könnten nicht nur sagen, dass Senecas Verständnis von Dankbarkeit solche Laster ausschließt, sondern auch ein Verhalten, das dazu neigt, empfangene Wohltaten nicht anzuerkennen, zu verleugnen oder „verhaltensmäßig“ zu vergessen. Das alles schließt die Dankbarkeit aus. Hier scheint mir Senecas Verständnis von Dankbarkeit als einer Tugend in klarem Gegensatz zum Laster zu stehen, da es viel mit Aufrichtigkeit, Wertschätzung, Anerkennung und aufmerksamem Gedenken zu tun hat.
Dankbarkeit ist also das freudige Nachdenken – nach dem Motto: „memoria gratum facit“ (Die Erinnerung macht dankbar) –, in dem wir die tugendhaften Eigenschaften und guten Auswirkungen einer Handlung oder einer Begebenheit (als Folge der Handlung der Götter – nach Senecas Vorstellung) achtsam wahrnehmen und dabei sowohl eine wohlwollende Haltung als auch eine von Freude und Tugend motivierte Handlungsintention pflegen.
3. Frage: Welche argumentative Stelle nimmt Dankbarkeit in diesem Werk ein?
„Sooft jemand erreicht hat, was er sich vorgenommen hat, erhält er seiner Leistung Frucht. Wer eine Wohltat erweist, was nimmt er sich vor? Zu nutzen dem, dem er sie erweist, und ihm eine Freude zu machen. Wenn er geschafft hat, was er wollte, und seine Gesinnung mich erreicht und mich meinerseits mit Freude erfüllt, hat er davongetragen, was er sich wünscht. […] [W]er eine Wohltat erweist, will, dass sie dankbar entgegengenommen wird: er hat, was er wollte, wenn sie in guter Gesinnung entgegengenommen worden ist.“
Hier wird das Vorhaben des Erweisenden und das Ziel einer Wohltat beschrieben. Dankbarkeit wird hier als das Ziel einer Wohltat aus der Sicht des Erweisenden dargestellt. Dadurch, dass die Gesinnung des Erweisenden an die des Entgegennehmenden herankommt – nach dem Motto: „animus animo sufficit“ (Der Gesinnung genügt die Gesinnung), findet eine „Übertragung“ der Freude sozusagen „zwischen den Geistern“ statt. Somit besteht eine gute Chance, dass sich der Zyklus der Freude schließt.
Fazit: die Rolle der Dankbarkeit im Werk „Über die Wohltaten“
Eingangs stand die Frage: Welche Rolle spielt Dankbarkeit in Senecas Abhandlung „Über die Wohltaten“? Im ersten Schritt habe ich dargestellt, dass Dankbarkeit nicht nur ein Nebenthema, sondern das Hauptthema der Abhandlung ist, insofern das eigentliche Problem, das es zu lösen gilt, die Undankbarkeit ist.
Im zweiten Schritt habe ich das Grundverständnis von Dankbarkeit aus Senecas Abhandlung wiedergegeben: Dankbarkeit ist das freudige Nachdenken, indem wir die tugendhaften Eigenschaften und guten Auswirkungen einer Handlung oder einer Begebenheit achtsam wahrnehmen und dabei sowohl eine wohlwollende Haltung als auch eine von Freude und Tugend motivierte Handlungsintention pflegen.
Schließlich im dritten Schritt habe ich erörtert, dass das eigentliche Ziel einer Wohltat die Dankbarkeit selbst ist.
Warum ist Dankbarkeit so zentral für Seneca? Wieso soll die Undankbarkeit vermieden werden? Aufgrund meiner Ausführungen verstehe ich Dankbarkeit als das bindende und abschließende Element des Zyklus der Freude. Denn es ist die Dankbarkeit, durch die das soziale Netzwerk der Wohltaten ermöglicht und aufrechterhalten wird.
Ich meine hiermit den Zyklus des Austausches. Die antiken Griechen und Römer hatten eine sehr schöne Allegorie, um diesen Zyklus zu veranschaulichen, nämlich die Allegorie der drei Charīten (Chárites) oder der drei Grazien (Gratiae).
Eine der wichtigsten Bedeutungen dieser Allegorie ist nämlich die der Veranschaulichung des Austausches von Wohltaten als eines dreiteiligen Vorgangs: gerne mit Freude Geben, Entgegennehmen und Zurückgeben. Für Seneca gilt also der Austausch von Wohltaten als das Element, das den Zusammenhalt der Gesellschaft am meisten fördert. Deswegen ist für Seneca die Dankbarkeit so wichtig. Sie spielt eine entscheidende Rolle: Dankbarkeit ist das bindende Element, vor allem in Form der Freude, und das abschließende Moment als das Erwidern einer Wohltat, als das Zurückbringen einer Freude.